Ebbe und Glut
Rocco habe die Wahrheit gesagt. Mia atmete auf, als das nicht der Fall war und sie unbehelligt von weiteren Angriffen Schutz in ihrer Wohnung suchen konnte.
Sie drosch auf ein paar Sofakissen ein. Vor Wut schossen ihr Tränen in die Augen.
Frank. Rocco. Dagmar Roth.
Die Welt war schlecht, besonders der Teil, der sich gegen Mia verschworen hatte. Sie hatte das dringende Bedürfnis, etwas kaputt zu machen. Oder noch besser: jemanden kaputt zu machen. Stattdessen machten alle anderen sie kaputt. Sie wühlte in ihren Schränken. Gab es nicht ein bisschen altes Porzellan, das sie zerkloppen konnte? Nein, fand sie, nichts in ihrer Wohnung war es wert, diesen schrecklichen Leuten geopfert zu werden.
Schließlich holte sie eine Flasche Rum hervor, den einzigen Alkohol, den sie finden konnte, und goss den Schnaps pur in ein Wasserglas. Der erste Schluck schmeckte widerlich. Der zweite war schon besser. Der dritte wärmte ihren Bauch, der vierte ihre Seele, der fünfte ließ sie Dagmar Roth vergessen, der sechste Frank.
Als das Glas leer war, erinnerte sie sich an überhaupt nichts mehr und schaffte es auch nicht mehr, von ihrem Sofa aufzustehen.
Die Scheidung fand Ende September statt. Mia war an dem Morgen so schlecht vor Angst, dass sie sich übergeben musste. Sie fürchtete sich davor, ihrem Mann nach einem Jahr zum ersten Mal gegenüberzutreten.
Wie eigenartig. Sie hatte sich nie vor Frank gefürchtet, im Gegenteil. Niemand hatte so beruhigend auf sie gewirkt wie Frank. Sie hatte ihm blind vertraut und sich immer ruhig und entspannt gefühlt, sobald er in ihrer Nähe war.
Und jetzt hing sie vor Angst über dem Klo.
Annika brachte sie zum Gericht und wartete dort auf sie. »Du musst das nicht alleine durchstehen«, sagte sie und umarmte Mia, bevor diese sich bleich und mit weichen Knien in die Obhut ihres Anwalts begab. Mia fühlte sich einsam und verloren. Das ganze Jahr über hatte sie sich auf diesen Tag gefreut, darauf, es endlich hinter sich zu bringen, Frank für immer Lebewohl zu sagen. Und jetzt war da auf einmal diese verfluchte Angst.
Ihr Anwalt redete beruhigend auf sie ein. »Das wird alles ganz schnell und unproblematisch ablaufen, Frau Sommer. Sie haben keine komplizierten Vermögensverhältnisse. Kinder sind auch keine da. Wir können in einer Viertelstunde wieder draußen sein.«
So war es auch. In dieser Viertelstunde jedoch saß Mia wie hypnotisiert da und starrte Frank an.
Frank, der ihr so vertraut war, dass es weh tat. Dessen Anblick alle Erinnerungen in ihr weckte. Einfach alle. Frank, der mit großen, traurigen Augen zurückstarrte. Und der unverschämt gut aussah. Er hatte abgenommen und einen neuen, modischen Haarschnitt. Und er trug kein T-Shirt mit einem albernen Aufdruck, sondern ein hellblaues Hemd, das gut zu seinen blonden Haaren passte. Von seinem Dackelblick mal abgesehen sah Frank so aus, als verlaufe sein Leben ohne Mia sehr erfolgreich und glücklich.
Als es vorbei war, kam er zu ihr.
»Es tut mir alles so wahnsinnig leid«, sagte er, und sein Dackelblick wurde noch dackeliger. »Bitte, Mia, es ist mir so wichtig, dass du das weißt.« Er griff nach ihrer Hand, aber sie zog sie rasch zurück. Die Kluft zwischen ihnen entsetzte Frank. »Ich war ein totaler Idiot«, sagte er betreten. »Ich kann das alles nicht mehr ungeschehen machen. Aber ich möchte so gerne, dass du wieder fröhlich bist. Bitte, Mia ...« Seine Stimme wurde verzweifelter, sein Dackelblick wandelte sich in den eines verängstigten Rehs. »Lass uns nicht so auseinander gehen. Sonst werden wir das beide nie mehr los. Lass uns reden. Lass es mich erklären. Bitte!«
Es war so verlockend. Mit Frank zu ihrem Lieblingsitaliener zu gehen, wie in alten Zeiten beieinander zu sitzen, sein Lachen zu hören, seine Wärme zu spüren, die Vergangenheit zu begraben. Aber Mia wusste, dass sie das nicht aushalten konnte. Sie konnte nicht mit Frank dasitzen und sein liebes Gesicht anschauen und danach einfach nach Hause gehen und ihr Leben als geschiedene Frau in Angriff nehmen. Sie schaffte das nicht.
»Ich kann das nicht«, sagte sie hastig und floh, bevor Frank ihre Tränen sehen konnte. Sie sprang in Annikas Auto und weinte ununterbrochen, bis sie vor Annikas Haus angekommen waren.
»Jetzt bin ich eine geschiedene Frau«, sagte sie.
»Jetzt bist du eine freie Frau«, entgegnete Annika.
Aber Mia wusste, dass das nicht stimmte.
11
Müde schleppte Mia sich durch die Gänge im Alsterhaus. Sie hatte
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