Ebbe und Glut
Norbert Roth war ein gutmütiger, nachsichtiger Mensch. Auch er hatte hohe Ansprüche und anfangs Korrekturen an Mias Texten vorgenommen, bis sie genau seinen Vorstellungen entsprachen. Doch das gehörte längst der Vergangenheit an. Schließlich war Mia eine erfahrene Texterin und keine Volontärin. Ganz anders hingegen verhielt sich Dagmar Roth. Sie schien in Mia täglich eine größere Bedrohung zu sehen und tat alles, um ihre Mitarbeiterin so klein wie möglich zu halten. Mia war sich nicht sicher, wie lange sie das noch aushalten konnte.
Als sie in ihre Straße einbog, kam ihr ein schlaksiger Mann in Lederjacke und Jeans entgegen. Sie erkannte Franks feinen Kumpanen Rocco schon von weitem und ging innerlich in Kampfstellung. Das Letzte, worauf sie jetzt Lust hatte, war ein Gespräch mit diesem Widerling.
»Mia!« Rocco blieb natürlich stehen und ging nicht einfach an ihr vorbei. Sie hatten sich nicht mehr gesehen, seit Frank bei ihr ausgezogen war, da sollte es eigentlich normal sein, wenigstens ein paar Floskeln auszutauschen. Doch Rocco gehörte wahrhaftig nicht zu den Leuten, die sie vermisste.
»Tag, Rocco.« Sie drängte sich mit mürrischem Gesicht an ihm vorbei.
Er hielt sie am Arm fest. »He …« Seine Stimme klang freundlich. »Was machst du denn hier?« Er trug eine riesige Sonnenbrille, hinter der sein halbes Gesicht verschwand. Und das wegen der lächerlichen paar Sonnenstrahlen, die dieser trübe Septembertag hergab.
»Ich wohne hier«, knurrte Mia.
Rocco sah sich neugierig um. »Was – hier in der Straße? Da sind wir ja fast Nachbarn.«
Mia verdrehte genervt die Augen. Das wurde ja immer schöner. Hatte sie jetzt etwa die ganze Meute wieder am Hals? Fehlte bloß noch, dass sie morgen früh Frank an der Bushaltestelle traf.
»Ist ja großartig.« Abweisend musterte sie Rocco. Sie verspürte keinerlei Bedürfnis, das Gespräch zu vertiefen. Rocco schüttelte bekümmert den Kopf. »Immer noch so voller Zorn? Mensch, Mia.«
Wütend fuhr sie herum. »Natürlich bin ich noch voller Zorn. Was hast du denn geglaubt?«
»Dass du dich mal ein bisschen entspannst. Meinst du nicht, dass es an der Zeit ist, Frank zu vergeben? Er leidet deinetwegen wie ein Hund.«
Rocco schob sich die Sonnenbrille auf die Stirn. Seine dunklen Augen sprühten vor Lebendigkeit, er war braun gebrannt (was zu der Sonnenbrille passte – vielleicht kam er gerade aus dem Urlaub und hatte noch nicht kapiert, dass in Hamburg bereits Herbst war) und sah so lässig aus wie immer. Außerdem entdeckte sie einen neuen Ausdruck in seinem Gesicht. So etwas wie Glück. Das machte sie erst recht wütend.
»Den Quatsch glaubst du doch selbst nicht«, fuhr sie Rocco an. »Frank war doch nur noch erleichtert, mich los zu sein.«
»Das stimmt nicht, und das weißt du ganz genau.« Roccos Stimme wurde leise und scharf. »Frank hat dich die ganze Zeit geliebt. Er liebt dich sogar jetzt noch.«
Das war ja wohl nicht zu fassen. Was fuhr dieser widerliche Typ hier bloß für eine miese Tour?
»Weißt du was?«, funkelte Mia ihn zornig an. »Diesen ganzen Müll kannst du dir für deine Drehbücher aufsparen, damit dann irgendwer einen schmalzigen Film mit Christine Neubauer daraus macht.«
»Christine Neubauer?« Rocco verzog das Gesicht. »Jetzt beleidigst du mich aber echt.«
»Herrgott noch mal«, fuhr Mia ungerührt fort. »Frank hat mich belogen und betrogen, und du hast ihn auch noch dabei unterstützt. Ich sehe nicht ganz, was das alles mit Liebe zu tun hat.«
Rocco seufzte und schüttelte nachsichtig den Kopf. »Das genau ist ja dein Problem, Mia. Dein Begriff von Liebe ist irgendwie sehr … schlicht.«
Das war zu viel.
»Schlicht?«, schrie Mia empört. »Im Gegensatz zu dir habe ich wenigstens überhaupt einen Begriff von Liebe.«
Mit diesen Worten stieß sie Rocco grob zur Seite und marschierte mit weit ausholenden Schritten die Straße hinab. Am liebsten wäre sie gerannt, so groß war der Drang, ihre Aggressionen loszulassen, aber ihre Stiefel hatten recht hohe Absätze. Sie wollte nicht riskieren, dass Rocco sich noch daran weiden konnte, wie sie stürzte. Früher war sie auf zwölf Zentimeter hohen Absätzen hinter dem Bus hergesaust. Heute fürchtete sie sich, in halb so hohen Schuhen etwas schneller zu laufen. Auch so ein Altersphänomen, dachte sie resigniert.
Was für ein grauenvoller Tag. Jetzt fehlte eigentlich bloß noch, dass Frank vor ihrer Tür hockte und ihr mit seinem treuen Hundeblick erklärte,
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