Ebbe und Glut
beauftragte wieder mal meine Brüder, aufzupassen, während ich selbst mit meinem neuen Fahrrad loszog.«
Mia versuchte sich den kleinen Arthur vorzustellen, einen Jungen mit kurzen Hosen und verstrubbelten Haaren, Zahnlücken und aufgeschlagenen Knien, der vor Lebenslust und Energie übersprudelte. Es fiel ihr schwer.
»Als ich zurückkam, herrschte in unserem Haus eine eigenartige Stimmung. Etwas war passiert, das spürte ich sofort. Jakob sah verheult aus, Tobias wirkte betreten und meine Mutter war wütend. Als sie mich sahen, starrten mich alle an. Jakob platzte heraus: Paulchen ist tot. Ich war total geschockt und wollte erst gar nicht glauben, was er da sagte. Aber meine Mutter und Tobias bestätigten die Horrorbotschaft. Es stellte sich heraus, dass meine Brüder die Meerschweinchen vergessen hatten. Während Jakob in der Sandkiste buddelte und Tobias sich etwas zu essen machte, kam Nachbars Katze und hüpfte in das Gehege. Die anderen beiden Meerschweinchen konnten sich rechtzeitig in ihren Stall retten, aber mein kleines Paulchen schaffte es nicht mehr. Die Katze brach ihm das Genick.«
Arthur schwieg einen Moment, ernst und in sich gekehrt.
»Das war meine erste Begegnung mit dem Tod«, sagte er abschließend, ohne Mia anzusehen.
Sie ließ die Geschichte auf sich wirken. Am Ende lag so etwas wie Bitterkeit in Arthurs Stimme. Hatte er seinen Brüdern diese kleine Geschichte nach all den Jahren etwa immer noch nicht verziehen? Das war kaum denkbar. Zumindest bewegte und beschäftigte sie ihn nach wie vor.
»Das war aber keine fröhliche Geschichte«, sagte Mia, um einen leichten Ton bemüht.
»Nein. War das etwa Bedingung?«
»Keineswegs.« Mia lächelte. »Da gab es keine Regeln.«
»Dann bin ich ja froh.«
»Ich schätze, du warst auf deine Brüder tierisch sauer.«
»Allerdings. Vor allem auf Tobias. Aus lauter Wut habe ich seinen Legokran zertrümmert, an dem er drei Tage gebaut hatte.« Arthur grinste. »Aber was soll's – es ist ewig her.«
Mia schwieg seltsam berührt. Was für ein außergewöhnlicher Abend mit einem außergewöhnlichen Arthur. Sie fing an, diesen Mann zu mögen.
Arthur fuhr sie nach Hause. Sie wehrte ab - »Ist doch nicht weit.« -, aber er bestand darauf: »Das machen Männer doch gewöhnlich so, wenn sie ein Date mit einer Frau haben.«
»Hatten wir denn ein Date?«
»Was war es denn sonst?«
»Keine Ahnung.«
»Na also.«
Alles erinnerte Mia an ihre letzte Fahrt mit Arthur. Wieder lenkte er seine breite Limousine gelassen durch den Großstadtverkehr, während sie schweigend nebeneinander saßen. Wieder waren sie hilflos um einen angemessenen Abschied bemüht.
»Ich hätte Lust, noch mehr Geschichten von dir zu hören«, sagte Mia.
»Ich denke mal drüber nach«, antwortete Arthur mit seiner üblichen Unverbindlichkeit.
Mia hoffte auf einen Abschiedskuss, aber sie bekam nur ein warmes »Schlaf schön« zu hören. Immerhin.
17
»Er hat dich nach Hause gefahren?«, fragte Annika. »Du meine Güte! Ein echter Gentleman.«
»Und noch dazu ein grandioser Liebhaber«, rief Henny, die Mias Bericht begierig verfolgt hatte. »Wahnsinn! So einen Mann triffst du nur einmal in hundert Jahren.«
Sie saßen zu dritt in einer Bar in Eimsbüttel. Mia hatte auch Henny mittlerweile von Arthur erzählt, die in erster Linie amüsiert reagierte.
»Dann bin ich endlich nicht mehr die Einzige hier, die schräge Männergeschichten zu erzählen hat«, sagte sie mit einer Mischung aus Belustigung und Zufriedenheit.
»Ach was«, wehrte Mia ab. »Für meinen Geschmack ist das alles ein paar Nummern zu dick aufgetragen. Er ist der perfekte Liebhaber, er kann perfekt kochen, er hat perfekte Umgangsformen. Er ist zu perfekt, zu vollkommen. Und am Ende stimmt eben doch nichts.«
»Wie meinst du das?«, fragte Annika. Sie trug einen ausgeleierten Strickpulli voller Knötchen in der Wolle, und ihre Haare hingen ihr strähnig ins Gesicht. Im Gegensatz zu Arthur wirkte Annika geradezu verwahrlost.
Mia erzählte von all den seltsamen Widersprüchen in ihrem Kontakt zu Arthur – von seiner kühlen, souveränen Art einerseits und seinem Unvermögen, zwischenmenschliche Kontakte halbwegs normal zu gestalten, andererseits. Von seinem ständigen Bestreben, nichts von sich preiszugeben und seinen ganzen eigenartigen Spielchen.
»Er hat zum Beispiel behauptet, dass ich rein zufällig an den Auftrag bei dieser Ökofirma geraten sei. Aber irgendwann stellte sich raus, dass er
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