Ebbe und Glut
hatten wir ja dieselbe Idee,« sagte Henny.
»Ach, zeig doch mal.« Mia öffnete den Deckel von Annikas Topf. »Er ist mit Tomaten und Paprika«, sagte sie in Hennys Richtung. »Das ist was völlig anderes als Kartoffeln und Möhren.«
»Du kannst dir Reis oder Nudeln dazu machen«, ergänzte Annika. »Und einfrieren kannst du das Zeug auch gut.«
»Für mein Überleben ist also gesorgt.« Mia ließ sich ergeben in die Kissen sinken und lagerte ihr Bein hoch. So alleine war sie gar nicht.
Dennoch ließ dieses Gefühl unendlicher Einsamkeit sie nicht mehr los, das sie am Morgen befallen hatte, als sie hilflos und alleine auf ihrem Bett gesessen hatte. Sie verbarg es hinter grimmigem Zorn über die Versäumnisse des städtischen Winterräumdienstes und hinter übertriebenem Arbeitseifer.
Auf einmal fand sie das selbstständige Arbeiten gar nicht mehr so übel. Sie saß auf ihrem Sofa, schrieb abwechselnd an einer Broschüre für Elbzeug und ihrem Roman, hörte Musik, aß nebenbei Gemüseeintopf und klappte den Rechner einfach zu, wenn sie keine Lust mehr hatte. War das nicht herrlich gemütlich? Und sie wurde sogar noch dafür bezahlt, das war das Beste daran.
Sie begann, ernsthaft darüber nachzudenken, welche alten Kontakte sie auffrischen musste, um an weitere Aufträge zu gelangen. Das hatte sie ewig nicht getan. Ihre Stimmung hob sich ein wenig.
Doch der Schmerz in ihrem Fuß ließ trotz der Schmerzmittel nicht nach und zermürbte Mia. Vor allem nachts kam sie kaum zur Ruhe. Zu allem Überfluss feierten auch noch gerade jetzt ihre türkischen Nachbarn die Hochzeit ihrer Tochter. Nach einem großen Fest in einem Restaurant ging die Feier zuhause tagelang weiter. Durch die dünnen Wände hörte Mia bis spät in die Nacht Reden, Lachen und Musik.
Sie wusste nicht, was schlimmer war, der Lärm oder Schmerz. Zum Arbeiten war sie nach ihrem ersten Höhenflug zu unkonzentriert, zum Lesen zu müde, und im Fernsehen lief auch nur Schrott. Tränen der Verzweiflung schossen ihr in die Augen.
Es klingelte an der Tür. Mühsam humpelte Mia mit Hilfe ihrer Krücken in den Flur. Eine Männerstimme kündigte durch die Gegensprechanlage einen Blumengruß an. Überwältigt vor Freude nahm Mia einen großen Blumenstrauß aus leuchtend gelben Gerbera und Rosen an. Sie vermutete, dass er von ihren Eltern stammte und staunte nicht schlecht, als sie den Text auf der beiliegenden Karte las:
»Ich dachte, du könntest ein bisschen Sonne gebrauchen. Gute Besserung! Arthur.«
Arthur! Lächelnd legte sie die Karte auf den Tisch. Langeweile und Zorn waren für einen Moment vergessen. Mia stellte die Blumen in einer Vase auf den Wohnzimmertisch. Der ganze Raum schien auf einmal viel freundlicher auszusehen. Wie schön!
Mia schickte Arthur eine SMS.
»1000 Dank für die wunderschönen Blumen! Kleiner Lichtblick in düsteren Zeiten. Meine Nachbarn feiern seit 3 Tagen und Nächten Hochzeit. Werde mich wohl umbringen, wenn sie noch einen 4. Tag feiern. Oder ich bringe die Braut um. Gruß Mia«
Sie fühlte sich seltsam leicht, nachdem sie die Nachricht abgeschickt hatte. Die Leichtigkeit hielt jedoch kaum eine halbe Stunde an. Dann dröhnte in voller Lautstärke türkische Popmusik durch das ganze Haus. Die orientalischen Rhythmen verursachten Mia Kopfschmerzen. Aber nachmittags um halb vier konnte sie sich schlecht über die Lärmbelästigung beschweren.
Sie dachte daran, wie schön ruhig und gemütlich sie es bei ihren Eltern haben könnte, aber die mussten ja ausgerechnet jetzt unter spanischer Sonne am Strand liegen und es sich gutgehen lassen. Wieder brachen Zorn und Verzweiflung sich Bahn, als es erneut an der Tür klingelte.
Mia wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und schleppte sich wieder in den Flur. Die Krücken ließ sie diesmal in der Ecke stehen. Sie waren ihr mehr Last als Hilfe. Wie konnten andere Leute mit diesen Dingern bloß kilometerweit gehen? Mia schaffte es kaum drei Meter. Da hangelte sie sich lieber an Möbeln und Wänden entlang.
An der Tür war vermutlich Frau Schmidt, die ihr ein paar Besorgungen mitbringen wollte. Doch da niemand im Treppenhaus stand, hob Mia den Hörer der Gegensprechanlage ab.
»Ja, hallo?«
»Hallo, hier ist Arthur. Ich wollte mal schauen, ob du noch lebst.«
Arthur! Um Himmels Willen, ARTHUR!!!
Entsetzt sah Mia an sich herab. Sie trug ihre älteste, ausgebeulteste Jogginghose und dicke, uralte Wollsocken, auf ihrer hellen Fleecejacke prangten rote Sprenkel, die stark
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