Ebbe und Glut
zumindest bi.« Er setzte sich neben sie auf das Sofa und fasste nach ihren Händen. »Ich weiß das schon ganz lange, aber ich wollte dir nie weh tun, Süße«, flüsterte er und war den Tränen nahe. »Ich möchte dich auch auf keinen Fall verlieren. Ich liebe dich doch auch …«
» Auch? « Mia entriss ihm ihre Hände. »Was heißt denn auch ? Willst du damit etwa sagen, dass du Rocco LIEBST?«
Jetzt fing Frank tatsächlich an zu weinen.
»Ja«, schluchzte er, »ja, das tue ich. Aber dich liebe ich auch. Und ich will dich auf keinen Fall verlieren. Oh Mia, das ist alles so schrecklich.«
Das war es in der Tat. Der Abgrund, der sich vor Mia auftat, war zu groß, um überwunden zu werden. Mechanisch, wie ferngesteuert, ließ sie Frank weinend auf dem Sofa zurück, nahm ihre Handtasche und verließ das Haus.
In den nächsten Tagen wohnte Mia bei Annika, wo sie ihre Zeit hauptsächlich damit verbrachte, sich die Augen auszuheulen. Sie saß wie festgeklebt auf der Eckbank in Annikas Küche, ließ sich von den einzelnen Familienmitgliedern Taschentücher reichen und qualmte sie zum Dank alle zu. Eigentlich rauchte sie seit zwei Jahren nicht mehr, doch die Sache mit Frank , wie Annika es nannte, brachte ihre ganzen guten Vorsätze durcheinander.
Annika verlor kein Wort darüber, dass Mia sich eine Zigarette nach der nächsten ansteckte, woraufhin der kleine Torben demonstrativ hustend die Küche verließ. Annika riss kommentarlos die Fenster weit auf und kochte Beruhigungstee - für Mia, aber auch für sich selbst.
Am zweiten Tag spuckte Mia das Gebräu angewidert aus. »Hast du nicht mal was Anständiges? Einen ordentlichen Schnaps?«
Annika stellte ihr wortlos eine Flasche Jägermeister auf den Tisch. »Das ist das einzig Hochprozentige im Haus. Aber kotz mir ja nicht nachher das Bett voll«, war alles, was sie sagte.
Nele gesellte sich zu ihnen. Sie war fünfzehn und hasste das Leben. Ihre Eltern waren ihr zuwider, die Schule war ihr zuwider, die meisten ihrer Mitschüler waren ihr zuwider. Und seit geraumer Zeit war ihr auch jegliche Form von Nahrungsaufnahme zuwider.
Mia kannte Annikas Tochter seit ihrer Geburt. Was war nur aus dem niedlichen Kind mit dem fröhlichen Lachen geworden? Ein dürres Mädchen mit feindseligem Blick, die blonden Haare modisch kurz geschnitten und schwarz gefärbt. Das machte ihr Gesicht noch bleicher. Ihre knallenge Jeans betonte ihre mageren Beine unangenehm und saß so tief, dass die spitzen Hüftknochen und dunklen Stoppeln auf dem Schambein deutlich zu sehen waren. Den flachen Bauch zierte ein Bauchnabelpiercing.
Mit gierigem Blick starrte Nele auf Mias Zigaretten, aber sie wagte nicht, um eine zu bitten. Vermutlich wusste Annika gar nicht, dass ihre Tochter rauchte. Mia starrte nicht minder neugierig auf Neles Hosenbund.
»Alles scheiße, was?« Immerhin brachte Mias Kummer Nele zum Reden.
»Das kannst du laut sagen.« Mia schwenkte ihr Likörglas. »Verlieb dich bloß nie.«
Nele schüttelte finster den Kopf. »Bestimmt nicht. Alle Männer sind Arschlöcher.«
Wie auf Kommando kam Matthias herein. Er wedelte übertrieben mit den Händen den Rauch zur Seite.
»Wird diese Kneipe hier eigentlich jemals wieder zu unserer gemütlichen Küche werden?«, fragte er Annika, die verzweifelt mit den Schultern zuckte.
»Ist doch gemütlich hier«, grunzte Mia und schenkte sich noch einen Likör ein.
Matthias warf einen Blick auf die Flasche vor ihr. »Das Zeug wird bei uns sonst nur getrunken, wenn jemand eine Magenverstimmung hat.«
»Ich habe auch Verstimmungen. Sehr große sogar«, nuschelte Mia.
»Aber ich glaube, die hast du jetzt genug kuriert.« Matthias nahm die Flasche an sich.
»Spielverderber«, knurrte Mia.
»Sag ich doch, alle Männer sind Arschlöcher«, sagte Nele und verschwand.
»Du solltest dich mehr um deine Tochter als um meine Freundin sorgen«, wandte Annika sich an Matthias. »Mia wird diese Phase heil überstehen. Bei Nele bin ich mir da nicht so sicher.«
»Seit wann rasiert sie sich denn die Schamhaare?«, fragte Mia neugierig. »Ich meine, sie ist fünfzehn .«
»Besser sie rasiert sich da unten, als hier oben.« Annika zeigte auf ihren Kopf.
»Sie wollte sich eine Glatze schneiden lassen?« Mia war sprachlos.
Annika und Matthias wechselten hilflose Blicke.
»Es ist eine Phase«, sagte Matthias.
»Ich glaube, sie braucht Hilfe«, entgegnete Annika.
Matthias schenkte sich einen Jägermeister ein.
»Für mich bitte auch.« Annika
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