Ebbe und Glut
schnaubte sie, als sie seine Stimme auf ihrem Anrufbeantworter lange Reden schwingen hörte. »Dafür, dass du Arschloch unsere Ehe ruiniert hast?«
Sie wollte nicht hören, dass seine Liebe zu ihr eine ganz andere war als die zu Rocco, und dass er nach wie vor davon überzeugt war, sie beide lieben zu können – jeden auf seine Weise.
Sie war so verletzt und fühlte sich so gedemütigt, dass sie glaubte, es nicht ertragen zu können. Für sie war Franks Verhalten unentschuldbar. Er hatte sie nicht nur monatelang mit Rocco hintergangen, er hatte ihr auch jahrelang verschwiegen, dass er auf Männer stand. Wer weiß, mit wem er sonst noch seine Doktorspiele gespielt hatte. Dieser ganze Männerclub war ihr immer suspekt gewesen. Vermutlich waren die anderen Kerle auch alle schwul.
Franks Spaß am Verkleiden, seine Freude an schöner Wäsche, das alles hätte Mia viel eher stutzig machen müssen. Aber sie dachte sich nie etwas dabei. Es gab so viele Männer, die schöne Wäsche toll fanden und sich gern Frauenkleider anzogen, ohne dass sie schwul waren. Mussten denn immer alle Klischees stimmen? Konnte nicht mal etwas ganz anders sein?
Jetzt musste Mia bitter für ihre Naivität bezahlen.
Der Erdrutsch ihres Lebens hatte begonnen.
20
Arthur schlief die ganze Nacht nicht. Er saß am Fenster und schaute hinüber auf den hell erleuchteten Containerhafen, der auch nie zur Ruhe kam. Ein böiger Wind warf prasselnden Regen gegen die Fensterscheiben. Arthur merkte es kaum. Seine Gedanken verloren sich im Nirgendwo, im Niemandsland, das er nie mehr betreten wollte, weil er fürchtete, daraus nicht mehr zurückzufinden.
Und nun war er doch wieder dort gelandet.
Carol hatte ihn an die Hand genommen. Lachend zog sie ihn hinter sich her. »Komm schon, mein Herz, das ist alles gar nicht so schlimm.«
Das hatte sie oft gesagt.
Das ist doch nicht so schlimm.
Eine Erkältung zu haben, ist nicht schlimm. Man muss nur die richtigen Medikamente nehmen, dann kann man auch arbeiten gehen und einen Vierzehnstundentag durchstehen. Vom Fünfmeterbrett zu springen, ist nicht schlimm. Man muss es nur richtig machen. Als Paar nicht nur in verschiedenen Städten, sondern sogar auf verschiedenen Kontinenten zu leben, ist nicht schlimm. Man muss sich nur gut organisieren.
Hätte sie auch gesagt, dass es nicht schlimm sei, zu sterben? Mit nur sechsunddreißig Jahren?
Bilder schossen ihm durch den Kopf, wie Blitze. Carol neben ihm beim Skifahren in den Alpen und beim Joggen im Central Park. Carol am Strand auf Spiekeroog und beim Reiten. Carol, die ihm beim Kochen zusah. Carol auf dem Sofa, am Schreibtisch, im Bett. In seinen Armen.
Seine Kehle schnürte sich zu, er glaubte, keine Luft mehr zu bekommen. Verzweifelt konzentrierte er sich auf einen Punkt in der Ferne, ein erleuchtetes Fenster in einem der umliegenden Häuser. Vielleicht noch eine arme Seele, die nicht schlafen konnte.
Die Bilder blieben trotzdem. Und neue kamen hinzu.
Wieder Spiekeroog. Er versuchte, sich Carol neben Mia vorzustellen, aber es fiel ihm schwer. Er bekam die beiden Frauen nicht zusammen, und doch hatte er sie Seite an Seite erlebt. Carol war ein wenig größer und schmaler als Mia, fast ein bisschen dünn. Das kam vom vielen Joggen. Arthur war gemeinsam mit ihr den Marathon in New York gelaufen, und Carol war fast so schnell wie er gewesen. Mias Figur war hingegen etwas weiblicher, runder, ohne dick zu sein. Ihm gefiel das. Und sie hatte wunderschöne, dichte lange Haare.
Er sah Mia in seiner Wohnung, sehr feminin, in Kleidern, die von ihrem guten Geschmack zeugten. Aber Mia in dreckiger Reitkleidung auf einem struppigen Pony sah er nicht. Warum erinnerte er sich nicht mehr daran? Warum war ihm in all der Zeit nie aufgefallen, dass er Mia bereits kannte? Wo sein Personengedächtnis normalerweise doch ganz hervorragend funktionierte.
Und dann tauchte doch ein Bild auf, von sehr weit her. Eine einsame Läuferin am Strand. Ein sehr hübsches, ausdrucksstarkes Gesicht und leuchtende, braungrüne Augen, die ihn gefangen nahmen. Er drehte sich nach ihr um, und als er sah, dass sie sich ebenfalls umgedreht hatte, verspürte er eine heitere Leichtigkeit. Es war nichts weiter als ein kleiner Sonnenstrahl, der seine Seele kitzelte und einen perfekten Urlaubstag noch perfekter machte. Anschließend war er zu seiner Frau zurückgekehrt und hatte sie mit beinah schmerzhafter Leidenschaft geliebt. Der einsamen Läuferin schenkte er keine Beachtung mehr, auch
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