Ebbe und Glut
reichte ihm ein Glas.
Keiner sagte ein Wort, als sie den Likör in einem Zug hinunter kippte.
Am nächsten Tag hatte Mia einen Kater und noch größere Verstimmungen als am Tag zuvor. Es war Samstag, der Schlagermove fand statt. Die ganze Stadt war voller Menschen, die schrille Siebziger-Jahre-Kostüme trugen und fröhlich feierten. Und mittendrin waren sicherlich auch Frank und Rocco mit ihren schrägen Anzügen und den knallbunten Perücken und amüsierten sich prächtig.
Mia war außer sich vor Wut.
»Wenn er sich wenigstens in eine andere Frau verliebt hätte«, schluchzte sie verzweifelt. »Aber musste es ausgerechnet dieser schleimige Rocco sein? Das ist so widerlich, so abartig, so ekelhaft, so demütigend, so …«
»So enttäuschend«, half Annika weiter. Sie hatte sich manchmal gefragt, warum Mia ausgerechnet diesen Kindskopf Frank heiraten musste, der immer viel unreifer als Mia wirkte und, wie man ja nun ganz deutlich sah, nicht in der Lage war, Verantwortung zu übernehmen. Aber Liebe machte bekanntlich blind.
»Alle Paare haben doch Probleme«, verharmloste Mia die Krisen, die sie mit Frank durchstand, angefangen bei ihrem immer karger werdenden Liebesleben, bis hin zu der ewigen Diskussion, wann der richtige Zeitpunkt für ein Kind gekommen sei. Frank wollte auf jeden Fall noch warten, Mia fand, dass es höchste Zeit sei. Sie war schließlich schon fast siebenunddreißig, ihre biologische Uhr tickte sehr laut und schnell.
»Und jetzt sitze ich hier und habe gar nichts«, heulte sie, während Annika ihr Taschentücher reichte. »Keinen Mann, kein Kind, kein Nix.«
»Noch hast du einen Mann«, gab Annika zu bedenken. »Überleg dir gut, ob du ihn einfach in die Wüste schicken willst. Immerhin hat er doch behauptet, dass er dich noch liebt.«
»Ach …«, Mia machte eine wegwerfende Handbewegung. »Das kann er hundertmal sagen. Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich mich auf eine Dreiergeschichte mit ihm und Rocco einlasse.«
»Nein, natürlich nicht.« Annika kochte wieder Tee, lüftete ausgiebig und hoffte, dass Mias Verstimmungen nicht ewig dauern würden.
Als Mia sich ein paar Tage später mit Frank traf, um zu besprechen, wie es nun weitergehen sollte, schlug er ihr tatsächlich eine Dreierbeziehung vor.
»Es muss doch nicht immer alles so sein, wie die ganze Welt es macht. Es gibt so viele Wege zum Lieben«, sagte er zaghaft. Er sah Mia voller Angst an, und als sie ihm sehr deutlich erklärte, dass nichts auf dieser Welt sie dazu bewegen könne, ihn mit Rocco Paletti zu teilen, begann er erneut zu weinen.
»Ich hab es vermasselt«, heulte er. »Ich hab's total vermasselt. Und dabei wollte ich euch doch nur beide glücklich machen.«
Mia fragte sich, was in seinem Kopf vor sich ging. Glaubte er ernsthaft, sie würde ihn teilen? Noch dazu mit diesem ekelhaften Rocco? Sie konnte es kaum glauben. Das mit Rocco war doch nur eine Laune. Dieser Kerl konnte Frank unmöglich so wichtig sein, dass er dafür alles aufs Spiel setzte. Schließlich war Frank mit Mia verheiratet und teilte mit ihr eine Wohnung. Sie hatten fünftausend Euro für ein Sofa ausgegeben. Sie würden Kinder haben, irgendwann, und miteinander alt werden.
So hatten sie es jedenfalls geplant. Höchste Zeit, Frank auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen.
»Er oder ich«, sage Mia energisch. Aber innerlich zitterte sie vor Angst.
»Oh nein!«, stöhnte Frank. »Mia, ich bitte dich, mach das nicht. Wirf nicht alles weg. Es gibt so vieles, was ich dir sagen möchte. Was wir uns zu sagen haben.« Er sah Mia eindringlich an, und für einen Moment spiegelte sich in seinem Gesicht weder Angst noch Verzweiflung, sondern nur eine tiefe Traurigkeit.
Mia reagierte nicht. »Ich oder er«, wiederholte sie frostig.
Es folgte ein Schweigen, das Jahre zu dauern schien. Jahre, in denen Mias Herz zu Eis gefror und all ihre Hoffnungen starben.
»Er«, flüsterte Frank kaum hörbar.
Sie trennten sich so schnell, wie sie zueinander gefunden hatten. Eine Woche, nachdem Mia die beiden ertappt hatte, packte Frank seine Sachen und zog zu Rocco. Er rief Mia immer wieder an, aber sie ging nicht mehr ans Telefon. Sie wollte keine Erklärungen und keine Entschuldigungen haben. Sie wollte nicht hören, dass er seine homosexuellen Neigungen so lange versteckt hatte, weil seine Eltern nichts davon wissen durften. Und dass er fürchtete, auch bei Mia auf Unverständnis zu stoßen.
»Wofür sollte ich denn auch Verständnis haben?«,
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