Ebbe und Glut
nicht, als sie am nächsten Tag plötzlich neben Carol auf dem Pferdehof stand und ihm später beim Essen gegenüber saß.
Und doch hatte sein Unterbewusstsein dieses winzigkleine Bild gespeichert, den Augenblick, als er Mia Sommer zum ersten Mal begegnete.
Verwirrt rieb er sich die Augen. Warum dachte er auf einmal so viel an Mia? Wieso tauchte sie immer auf, wenn er über Carol nachdachte?
Völlig zusammenhanglos fiel ihm seine Hochzeit ein. Carol sah überwältigend schön aus. Und in ihren Augen lag an diesem Tag so viel Liebe, dass er es kaum ertrug. Auf Carols Wunsch heirateten sie in Hamburg. Es gab ein riesiges Fest, sie luden viele Freunde ein und einen Haufen Verwandter. Es war eine fröhliche, ausgelassene Party. Carols Familie war groß, laut und lebhaft. Arthurs Familie war noch größer und sehr bunt. Elegante Hanseaten saßen neben schrillen Künstlern, Hausfrauen tanzten mit Schriftstellern, in wallende Gewänder gekleidete Tänzerinnen spielten mit den zahlreichen Kindern. Arthur war in einem offenen Haus aufgewachsen, seine Eltern hatten ständig Gäste aus den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Schichten. Er lernte schon früh, tolerant und neugierig zu sein. Das half ihm später auf seinen vielen Reisen und während seiner jahrelangen Auslandsaufenthalte. Es fiel ihm leicht, sich in fremde Kulturen einzufügen und ungewohnten Regeln unterzuordnen.
Die Hochzeitsreise verbrachten sie auf der Queen Mary 2 , dem schönsten und damals größten aller Kreuzfahrtschiffe, das von Hamburg nach New York fuhr. Sie fanden es eine witzige Idee, ihre beiden Welten auf diese Weise zu verbinden, auf den Spuren der alten Auswanderer, die früher von Hamburg aus mit dem Schiff in ein neues Leben nach Amerika aufgebrochen waren.
Aber nach drei Tagen an Bord bereute Arthur diese Entscheidung. Die immer gleichen Leute, das immer gleiche Meer, der immer gleiche Horizont langweilten ihn.
»Wieso sind wir nicht mit einer Harley die Route 66 entlang gefahren? Oder haben eine Raftingtour durch den Grand Canyon gemacht? Das wären Abenteuer gewesen. Kreuzfahrten können wir auch noch bei unserer Silberhochzeit machen.«
»Dann tun wir halt so, als sei dies unsere Silberhochzeitsreise«, sagte Carol. »Und in fünfundzwanzig Jahren fahren wir mit der Harley und machen eine Raftingtour.« Sie klang kein bisschen enttäuscht, weil Arthur sich nicht so amüsierte wie erhofft.
Er liebte es, dass sie so unkompliziert war und in allem immer nur das Positive sah.
Jetzt lachte sie augenzwinkernd. »Aber bis zu unserer Silberhochzeit musst du natürlich noch ein Held werden, sonst finden die Abenteuer leider ohne dich statt.«
»Stimmt, da war ja noch was.« Arthur lachte.
Am Tag vor ihrer Abreise hatte Carol Titanic auf DVD gesehen und ergriffen geschluchzt, als Leonardo DiCaprio im eisigen Meer versank.
»Ganz schön masochistisch, dass du dir direkt vor unserer Schiffsreise so einen Film anguckst«, stellte Arthur fest.
Carol schmiegte sich an ihn. »Wirst du mich auch so heldenhaft retten und für mich sterben wie Leo für Kate Winslet?«
»Nein«, erklärte Arthur. »Ich bin der Erste, der im Rettungsboot sitzt. Ich fürchte, zum Helden tauge ich überhaupt nicht.«
»Nicht?« Carol rückte in gespielter Entrüstung ein Stück von ihm ab. »Da habe ich ja den völlig falschen Mann geheiratet.«
»Falls du einen Helden wolltest, ja. Was wirst du jetzt tun? Dich wieder scheiden lassen?«
»Ich fürchte, ja. Ich brauche einen Mann, der für mich sein Leben opfern würde, verstehst du?«
»Klar verstehe ich das. Wen wirst du dann heiraten? Leonardo DiCaprio?«
»Ja, vermutlich. Wobei mir natürlich ein Held lieber wäre, der auch am Leben bleibt, trotz aller Opferbereitschaft. Leo hat sich da auf der Titanic ein bisschen dusselig angestellt.«
»Tja, Helden sind auch nicht mehr das, was sie mal waren.«
»Nein. Ich liebe dich übrigens trotzdem.«
»Tatsächlich? Das trifft sich gut. Ich liebe dich nämlich auch.«
»Wie schön! Wie sehr liebst du mich?«
»Sehr, sehr, sehr.«
»Wundervoll!«
»Und du – wie sehr liebst du mich?«
»Bis in alle Ewigkeit.«
Man hatte Arthur erzählt, sie sei sofort tot gewesen. Er hinterfragte das nie. Er stellte überhaupt kaum Fragen.
Es war jedoch kein Tag in den letzten Jahren vergangen, an dem er sich nicht gewünscht hatte, diesen verfluchten Unglückstag irgendwie ändern zu können. Wenn sie sich morgens nicht gestritten hätten, dann hätte Carol
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