Ebbe und Glut
Stadt fuhr.
»Vielleicht hätten wir doch schon gestern Abend fahren sollen«, sagte Carol. Mit einem gehässigen Seitenblick in Arthurs Richtung fügte sie hinzu: »Aber du musstest ja unbedingt noch abends um neun wichtige Telefonate führen. An einem Samstag.«
»Hast du so was noch nie gemacht?«, gab Arthur mit versteinerter Miene zurück. Die Frage war nicht ernst gemeint. Sie wussten beide, dass Carol genauso viel arbeitete wie Arthur, und dass es auch für sie nur selten ein ganz freies Wochenende gab.
Die Stimmung blieb frostig, bis der Stau sich auflöste, und sie wieder freie Fahrt hatten. Das stimmte Beide etwas friedlicher.
Carol brach das Schweigen als Erste. »Wir sollten nicht so viel streiten«, sagte sie. »Dafür ist die Zeit, die wir miteinander verbringen, wirklich zu kurz.«
Als sie sah, wie Arthurs Miene sich entspannte und er nickte, legte sie behutsam eine Hand auf seinen Arm. »Entschuldige, ich wollte dich nicht verletzen.«
Arthur wandte sich ihr zu. In seinen Augen, die eben noch eisig wirkten, lag jetzt so viel Wärme, dass Carols Herz sich weitete.
»Mir tut es auch leid«, sagte Arthur versöhnlich. »Ich wollte unsere Ehe nicht in Frage stellen, das war eine ziemlich miese Bemerkung. Aber ich war einfach so wahnsinnig enttäuscht.«
Carol beugte sich zur Seite und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. Sie war so übervoll von zärtlichen Gefühlen, dass sie kaum wusste, wohin damit. Und als sie spürte, dass es Arthur ähnlich ging, erfasste sie eine Erregung, die sie vibrieren ließ. Sie waren einander so nah, so verbunden, egal wie viele Kilometer sie auch oft voneinander trennten. Nichts, aber auch gar nichts, konnte diese Verbindung lösen. Aber sie durften ihr Glück nicht leichtfertig aufs Spiel setzen. Carol begriff, dass sie es war, die zurückstecken musste, wenn sie mit Arthur eine Familie gründen wollte. Es lag bei ihr, die Prioritäten zu setzen, so sehr ihr das auch widerstrebte. Aber sie war es, die ein Kind austragen und in den ersten Monaten für es da sein musste. Und sie verstand, dass Arthur daran Anteil nehmen und sein Kind nicht nur über eine Webcam anschauen wollte. Das war doch eigentlich schön. Es zeigte, wie sehr er sich nach ihrer Nähe sehnte.
Voller Liebe wandte Carol sich Arthur zu.
Und dann umgab sie auf einmal vollkommene Dunkelheit.
21
Der Frühling kam in diesem Jahr verspätet, dafür aber umso kraftvoller. Im April stiegen die Temperaturen schlagartig über zwanzig Grad, in der Natur erblühte alles gleichzeitig, und üppige Farben und Gerüche ließen den langen, schneereichen Winter vergessen. Mia erhielt neue Auftragsanfragen und schöpfte ein wenig Hoffnung. Vielleicht konnte sie es doch schaffen, ihren Lebensunterhalt dauerhaft als Freiberuflerin zu bestreiten. Sie steckte alle Energie in ihre Arbeit, nicht nur aus dieser nagenden Existenzangst heraus, die sie quälte, seit Norbert Roth sie gefeuert hatte, sondern auch, weil sie sich von den Männern ablenken wollte, die sie viel mehr beschäftigten als ihr lieb war.
Wenn sie an Frank dachte, befiel sie ein wachsendes Unbehagen. Jahrelang hatte sie ihre Gefühle und alles, was mit dieser Trennung zusammenhing, verdrängt und ignoriert. Doch jetzt, mit dem nötigen Abstand und ihrer zunehmenden Bereitschaft, sich mit der Vergangenheit zu befassen, kamen die Erinnerungen wieder. Erinnerungen, die schmerzvoll und unangenehm waren.
Auch die Erinnerungen an Arthur belasteten Mia. Seit sie wusste, dass Carol tot war, ergab vieles plötzlich einen Sinn. Arthurs kalte, abwehrende Art, seine Furcht vor Nähe, seine Grobheiten und Launen erschienen in einem ganz neuen Licht. Arthur, so begriff Mia schlagartig, versuchte verzweifelt, seinem Leben wieder eine Ordnung zu geben, die ihm nach Carols Tod offenbar abhanden gekommen war.
Mia wusste nicht, wie sie sich ihm gegenüber verhalten sollte. Sie waren sich in letzter Zeit näher gekommen, aber immer noch fühlte sie sich in Arthurs Gegenwart oft angespannt und befangen, immer noch störte sie sich an Äußerlichkeiten, für sie ein Zeichen, dass sie niemals Freunde werden würden. Es gab eine Grenze zwischen ihnen, eine unsichtbare Mauer, über die zu klettern keiner von ihnen bereit war.
Ihr war klar, dass Arthur kein Mitleid vertragen konnte – nur, wie sollte sie ihre Bestürzung über den Verlust seiner Frau zum Ausdruck bringen, ohne Mitleid zu zeigen? Wie sollte sie überhaupt mit dieser Neuigkeit umgehen? Sie
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