Ebbe und Glut
Strand.
»Früher war das hier mal ein ziemlich überlaufener Ort«, erklärte Arthur. »Damals starteten von hier aus die Butterfahrten Richtung Dänemark, damit die Touristen auf dem Meer zollfrei einkaufen konnten. Aber seit die EU die Butterfahrten verboten hat, kommt kein Mensch mehr her.«
Mia schaute sich um. Sie mochte die Stille, den Charme des Vergänglichen, der über dem Dorf lag, und vor allem die Weite der Ostsee, die sich spiegelblank vor ihnen ausbreitete.
»Wollen wir nicht mal runter zum Strand gehen?«, fragte sie. Ein steiler, steiniger Pfad schlängelte sich den Hang hinab.
»Damit du dir gleich wieder den Fuß verstauchst?« Arthur lachte. »Ich schlage vor, wir gehen noch ein Stück weiter, da vorne kommt ein besserer Weg.«
Mia lachte ebenfalls. »Seit wann scheust du denn sportliche Herausforderungen? Komm schon, das schaffen wir doch locker!«
Ehe Arthur weitere Einwände erheben konnte, begann sie bereits mit dem Abstieg. Es war tatsächlich nicht ganz einfach, auf dem steilen, sandigen Boden Halt zu finden, immer wieder lösten sich Steine und Sand unter ihren Schuhen und brachten sie ins Rutschen. Aber Mia wollte sich keine Blöße geben, sie würde diesen Hang heil hinunter kommen, und zwar noch vor Arthur, der ihr vermutlich dicht auf den Fersen war. Doch als sie zurückblickte, stellte sie fest, dass Arthur ihr nicht gefolgt war. Er war aus ihrem Blickfeld verschwunden. Immer wieder schaute sie suchend nach oben, während sie langsam den steinigen Strand entlang schlenderte. Sie traf Arthur jedoch erst an dem alten, verfallenen Fähranleger wieder. Er hatte einen breiten, befestigten Weg genommen, der vom Dorf direkt zum Anleger führte.
»Sieh an, du hast dich tatsächlich für den Rentnerweg entschieden«, spottete Mia.
Arthur wirkte verstimmt. Sein Blick war verschlossen und abweisend, ohne ein Wort zu sagen, setzte er sich auf eine Bank am Anleger. Als Mia sich zu ihm gesellte, schwieg er immer noch.
»Du ärgerst dich doch nicht etwa, weil ich den Hang hinab geklettert bin?«, fragte Mia irritiert.
»Nein, natürlich nicht.« Arthur setzte eine gleichgültige Miene auf. Seine Stimme klang trotzdem verärgert.
Eine Weile saßen sie schweigend nebeneinander und starrten auf das Wasser. Eine Möwe ließ sich auf einem morschen Pfahl des Anlegers nieder. Am Horizont war ein winziges Schiff zu erkennen. Die Sonne schien Mia warm ins Gesicht.
»Ich finde, es ist total schön hier«, sagte sie, als sie das unbehagliche Schweigen nicht länger aushielt, das zwischen ihr und Arthur hing.
Arthur nickte. »Ja, das stimmt«, sagte er leise, und da erkannte Mia, dass er nicht verärgert, sondern bedrückt war. Wie schon neulich im Café hätte sie gern Arthurs Hand genommen, aber sie zögerte einen Moment zu lange, er hatte sich bereits wieder gefasst und sagte übertrieben munter: »Gehen wir ein Stück? Vielleicht findest du ja ein paar Muscheln.«
»Muscheln?«
»Ja, warum nicht? Sammeln nicht alle Frauen Muscheln?«
»Hat Carol sie gern gesammelt?« Die Frage rutschte ihr einfach so heraus, sie erschrak selbst darüber.
»Ja, hat sie. Und dann belagerten die Muscheln monatelang ihre Fensterbretter, bis sie irgendwann im Müll landeten. Es war nach jedem Strandurlaub dasselbe.«
Es war das erste Mal, dass Arthur etwas Persönliches von seiner Frau erzählte. Mia hielt den Atem an und wartete ab, ob er weiter sprechen würde. Aber er tat es nicht. Arthur ging langsam den Strand entlang und hielt sein Gesicht in den Wind. Etwas Einsames und Verlorenes umgab ihn.
Mia fand, dass er in seiner Verlassenheit zum Verlieben schön aussah.
22
»Muscheln habe ich nicht gesammelt«, sagte Mia, als sie zum Auto zurückkehrten. »Aber einen Stein.« Sie öffnete ihre Hand und zeigte Arthur einen kleinen, unregelmäßig geformten schwarzen Stein mit weißen Flecken und einem kleinen, runden Loch in der Mitte.
»Ah, ein Hühnergott.« Arthur schaute auf Mias flache Hand. »Ein Feuerstein mit Loch.«
»Genau.« Mia hob den Stein vor ihr Auge. »Man sagt, dass deine Wünsche in Erfüllung gehen, wenn du durch das Loch schaust.«
»Tatsächlich? Das wusste ich nicht.«
Natürlich nicht, dachte Mia, Arthur merkte sich vermutlich immer nur die nüchternen Fakten, und nichts, was mit Gefühlen zu tun hatte.
»Ich schenke ihn dir.«
»Oh, danke!«
Als Arthur den Stein aus Mias Hand entgegen nahm, spürte sie die Wärme seiner Finger. Er hob den Hühnergott ebenfalls vor
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