Echo des Blutes: Thriller (German Edition)
ihrer Erkrankung die Saiten nicht mehr fühlen und war gezwungen, jedem Griff mit dem Blick zu folgen. Byrne, der niemals ein Instrument gespielt und niemals auf irgendeinem Gebiet als besonders begabt gegolten hatte – er war nur Weltmeister darin, seine eigenen Beziehungen zu zerstören –, konnte sich kaum vorstellen, welch ein Entsetzen und welchen Kummer ein solches Erlebnis bei einem so talentierten Menschen wohl ausgelöst haben mochte.
Christa-Marie Schönburg hatte nichts von ihrem Talent eingebüßt, als sie die Haftstrafe antreten musste. Zum Zeitpunkt ihrer Inhaftierung war sie noch immer eine der berühmtesten Cellistinnen weltweit, der die Fans zu Füßen lagen. Als Byrne ihr nun nach all den Jahren ins Gesicht sah, fragte er sich, welches Schicksal wohl schlimmer war.
»Wir kamen damals frisch vom Konservatorium«, sagte sie. »Ich ging zum Prentiss Institute. Mein Lehrer war ein Freund aus Kindertagen von Ormandy. Wäre er nicht gewesen, wäre ich vielleicht niemals entdeckt worden.«
Christa-Marie machte es sich in dem Sessel bequem und fuhr fort.
»Wissen Sie, damals gab es noch nicht so viele Musikerinnen. In einem großen Orchester zu spielen, zumindest in einem der Big Five – Boston, New York, Cleveland, Chicago und Philadelphia –, wurde erst viel später als Beruf angesehen, als Vollzeitjob, den auch eine Frau ausüben konnte. Als Erwerbstätigkeit, wie man sagte.«
Byrne schwieg. Sein Handy vibrierte schon zum dritten Mal. Er konnte die Gespräche jetzt nicht annehmen.
»Christa-Marie, ich muss Ihnen eine Frage stellen«, sagte er schließlich.
Christa-Marie rutschte auf dem Sessel erwartungsvoll ein Stück nach vorn. Jetzt sah sie aus wie ein Schulmädchen. Byrne zeigte ihr die Karte.
»Warum haben Sie mir geschrieben?«
Anstatt die Frage zu beantworten, schaute sie kurz aus dem Fenster und wandte ihm dann wieder den Blick zu. »Kennen Sie diese geschwungenen Löcher, die in die Vorderseite des Cellos geschnitten sind?«
Byrne spähte zu dem Cello hinüber, das in einer Ecke stand. Er sah, was sie meinte, und nickte.
»Wissen Sie, wie diese Löcher heißen?«, fragte sie.
»Nein.«
»Man nennt sie F-Löcher. Ich erinnere mich noch gut, als ich das Wort zum ersten Mal gehört habe.«
Auf Christa-Maries Gesicht spiegelte sich die Sehnsucht nach der unbeschwerten Zeit.
»Ich habe meine glücklichsten Jahre am Prentiss Institute verbracht, wissen Sie. Es gab keinerlei Druck, sondern nur die Musik. Bernstein sagte eines Tages zu mir, das Einzige, was zähle, sei die Liebe zur Musik. Das stimmt.«
Sie strich sich über die Haare und dann über die Wange. »Ich war erst neunzehn an diesem ersten Abend an der Akademie. Neunzehn. Können Sie sich das vorstellen?«
Das konnte Byrne nicht, und er sagte es ihr.
»Seitdem sind so viele Jahre vergangen«, stieß sie hervor und verstummte wieder.
Byrne hatte das Gefühl, dass er nie wieder die Gelegenheit haben würde, seine Fragen zu stellen, wenn er es jetzt nicht tat.
»Christa-Marie, ich muss mit Ihnen über den Brief sprechen.«
Sie warf ihm einen Blick zu. »Nachdem wir uns so viele Jahre nicht gesehen haben, möchten Sie sofort zum Thema kommen.« Sie seufzte theatralisch. »Wenn es sein muss.«
Byrne hielt die Karte noch einmal hoch. »Ich muss wissen, was Sie damit meinten, als Sie mich gefragt haben, ob ich sie ›gefunden habe‹. Ob ich den Löwen, den Hahn und den Schwan gefunden habe.«
Christa-Marie starrte ihn eine Weile an und stand dann auf. Sie ging auf ihn zu und kniete sich vor ihn hin.
»Ich kann Ihnen helfen«, sagte sie.
Byrne antwortete nicht sofort und hoffte, sie würde fortfahren. Das passierte nicht. »Wie können Sie mir helfen?«, fragte er dann.
Christa-Marie blickte wieder aus dem Fenster. Aus der Nähe betrachtet sah ihre Haut in diesem Licht beinahe durchscheinend aus. Eigentlich nicht verwunderlich, nachdem sie so viele Jahre die Sonne entbehren musste.
»Kennen Sie die Suzuki-Methode?«, fragte sie.
Byrne schüttelte den Kopf. Er hatte den Begriff schon einmal gehört, wusste aber sonst nichts darüber.
»Diese Methode konzentriert sich mehr auf das Spielen der Melodie als auf die Technik. Suzuki erlaubte seinen Schülern, schon am ersten Tag zu spielen. Es besteht kein großer Unterschied zum Erlernen einer Fremdsprache.« Sie beugte sich vor. »Wir sprechen beide die Sprache des Todes, nicht wahr?«
Christa-Marie beugte sich noch weiter vor, als wolle sie Byrne ein Geheimnis
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