Echo des Blutes: Thriller (German Edition)
anvertrauen.
»Ich kann Ihnen helfen, diese Morde zu beenden«, sagte sie leise.
Die Worte hallten von den beschlagenen Scheiben des Wintergartens wider.
»Die Morde?«
»Ja. Sie wissen, dass es noch mehr geben wird. Viel mehr. Vor Halloween um Mitternacht«, sagte Christa-Marie mit nüchterner, emotionsloser Stimme. Sie sprach über Morde wie zuvor über die Musik.
»Warum Halloween um Mitternacht?«
Ehe sie antwortete, bewegte sie plötzlich die Finger ihrer linken Hand. Zuerst glaubte Byrne, es könnte ein nervöses Zucken sein, eine unbewusste Bewegung, die hervorgerufen worden war, weil sie längere Zeit in derselben Position verharrt hatte. Doch dann sah er aus den Augenwinkeln, dass ihre Finger sich um einen imaginären Gegenstand schlangen, und er begriff, dass sie ein paar Passagen spielte, die sie einst auf dem Cello gespielt hatte. Und so plötzlich, wie die Bewegung begonnen hatte, hörte sie wieder auf, und sie legte die Hände in den Schoß.
»Es ist erst vorüber, wenn die Coda beginnt, Detective.«
Byrne kannte das Wort. Die Coda war der letzte Teil eines Musikstückes und wurde in der Regel mit dramatischem Nachdruck gespielt – zum Beispiel ein Tusch am Ende einer Symphonie. »Ich weiß nicht genau, was Sie meinen.«
»George Szell stand oft am Fenster seines Büros und beobachtete, welche seiner Musiker ihre Instrumente mit nach Hause nahmen.«
Byrne schwieg und hoffte, sie würde von selbst wieder auf das Thema zurückkommen.
»Das ist für die Oboisten nicht schwer, nicht wahr?«, fügte sie hinzu. »Für die Bassisten schon.« Sie setzte sich auf die Fersen. »Wissen Sie, dass die Cellisten und Bassisten für ihre Instrumente ein zusätzliches Flugticket kaufen müssen?«
Nein, das wusste Byrne nicht.
»Das Cavani String Quartet bucht immer fünf Plätze.«
»Christa-Marie«, sagte Byrne und hoffte, dass seine Stimme sich nicht anhörte, als würde er sie anflehen. »Ich muss …«
»Kommst du Halloween wieder hierher?«, fragte sie. »Ich möchte dir einen besonderen Ort auf dem Land zeigen. Wir machen uns einen schönen Tag. Wir werden viel Spaß haben.«
Byrne musste herausfinden, was der Hinweis auf die Tiere in ihrer Mitteilung bedeutete. Doch jetzt wusste er, dass es nicht so einfach sein würde, diese Informationen zu bekommen. »Ja, ich komme«, sagte er.
Sie schaute ihn an, als sähe sie ihn erst jetzt zum ersten Mal. Ihre Miene verfinsterte sich. »Ich kann dir helfen, diese Morde zu beenden, Kevin. Aber zuerst musst du etwas für mich tun.«
»Was kann ich für dich tun, Christa-Marie?«
Er hatte mit allem gerechnet, aber das, was sie dann sagte, verschlug ihm schier den Atem und führte seine Gedanken zurück in die dunklen Stunden jener Nacht.
Christa-Marie nahm seine Hände in die ihren und schaute ihm tief in die Augen. »Schlaf mit mir«, sagte sie.
54.
Mit klopfendem Herzen stand Lucy vor der Tür von Zimmer 1208. Sie wollte es betreten, doch eine entsetzliche Angst, die sie gut kannte, lähmte sie. Sie hatte auf eigene Faust ein wenig recherchiert und wusste, dass alle Gäste auf dieser Etage Mitglied in der Société Poursuite waren. Heute besuchte die Gruppe ein Seminar im Crystal Room, das von 10.00 bis 15.00 Uhr dauern sollte. Dann gab es eine Pause. Lucy nahm an, dass zwischen 9.30 Uhr und circa 14.00 Uhr niemand diese Etage betreten würde.
Heute Morgen hatte sie auf dem Treppenabsatz gestanden und die Leute beobachtet, die den Crystal Room betraten. Seit ihrer Entführung beobachtete sie alle Menschen, die sie traf, ganz genau und lauerte auf eine Geste, eine vertraute Körperhaltung, ein Wort, einen Tonfall, einen Akzent, die sie zu diesen drei verlorenen Tagen und dem, was ihr zugestoßen war, zurückführen würden.
In Carlisle hatte sie einst das schrille Lachen einer Frau gehört. Es weckte ihre Erinnerung an einen Raum, aber nicht unbedingt an einen Raum, in dem sie gefangen gehalten wurde, sondern an einen, der als Zwischenstopp diente. Als sie sich zu der Frau umdrehte – einer korpulenten Rothaarigen um die vierzig mit Nikotinflecken auf den Lippen -, verflüchtigte sich das Gefühl schon wieder. Lucy begriff damals, dass dieses Gefühl immer wieder kommen und vergehen würde. Es reichte aus, wenn es wenige Minuten andauerte, damit sie es richtig registrieren und sich zu erinnern versuchen konnte.
Jetzt wartete eine andere Aufgabe auf sie.
Lucy hob die Hand, um zu klopfen, doch sie schaffte es nicht. Ihre Arme waren kraftlos und
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