Echo des Blutes: Thriller (German Edition)
mit gemauerten Wänden. Der Raum wurde nur von Kerzen erhellt. Es kam ihr so vor, als wären es Hunderte. In dem Raum roch es nach billigem Parfum und faulenden Äpfeln. Sogar der Staub und die Spinnweben waren kalt.
Als Mr. Archer ging und Lucy hörte, dass die Tür oben an der Treppe abgeschlossen wurde, sah sie, dass noch ein Mädchen in dem Raum saß. Es war ungefähr in Lucys Alter, um die elf, aber es trug das Kleid einer erwachsenen Frau – ein kurzes Paillettenkleid mit Trägern. Das Gesicht des Mädchens war mit Make-up verschmiert. Es hatte lange geweint. Seine Augen waren rot und geschwollen.
»Wer bist du?«, fragte Lucy.
Das Mädchen zitterte.
»Ich bin … ich bin Peggy.«
»Warum bist du hier?«
Das Mädchen antwortete nicht. Lucy betrachtete die Arme und Beine des Mädchens. Sie waren mit blauen Flecken übersät. Dann schaute Lucy sich um und sah, dass an einem Rohr an der Decke ein zweites Kleid hing.
Es verging eine lange Zeit. Stunden um Stunden, und Lucy konnte sich nicht erinnern, was in dieser Zeit geschehen war. Tage der Dunkelheit.
Am dritten Tag nahm sie ein Schaumbad. Das Badezimmer befand sich in einem kleinen Raum im Kellergeschoss. Die Wände waren mit rosafarbener Lackfarbe gestrichen. Das Waschbecken hatte goldene Wasserhähne.
Als die Dunkelheit hereinbrach, kam Mr. Archer in den Keller, um sie zu holen. Zum ersten Mal nahm er sie mit ins Esszimmer. Der Tisch war für zwei Erwachsene gedeckt. Weingläser und viele Kerzen. Lucy trug jetzt ihr Damenkleid und hochhackige Schuhe, die viel zu groß für sie waren. Mr. Archer war gekleidet wie ein Mann in einem alten Spielfilm und trug eine weiße Fliege. Er ging in die Küche.
Lucy schaute zum Fenster hinüber. Sie durchquerte den Raum, öffnete das Fenster und schlüpfte hinaus.
»Eve!«, schrie Mr. Archer.
Lucy rannte. Sie rannte, so schnell und so lange sie konnte, durch riesige Apfelgärten. Sie stolperte und fiel hin, schürfte sich Ellbogen und Knie auf und zertrat während des Laufens die verfaulten Äpfel, die auf der Erde lagen. Sie sah über die Schulter zurück, aber sie konnte Mr. Archer nicht entdecken. Bald kam sie zu einem dicken Rohr, das in den See mündete. Sie kroch hinein und wartete. Lucy wusste nicht, wie lange sie in dem Rohr kauerte. Stunden um Stunden. Sie musste sich in den Schlaf geweint haben, denn auf einmal schien ihr ein helles Licht ins Gesicht.
»Alles ist gut«, sagte der Mann mit der Taschenlampe.
Doch nichts war gut.
Sie sprachen stundenlang mit ihr, aber Lucy sagte kein Wort. Sie hatte alles, was sie erlebt hatte, verdrängt.
Ihre Mutter nahm sie mit nach Hause. Die Zeit verging, und die Erinnerung an den Mann mit dem Schlangenring verblasste allmählich. Doch dort, wo die Angst in ihrem Inneren saß, nahm der gesichtslose Mann Gestalt an und schwebte durch die Dunkelheit ihrer Träume.
Nachts hörte sie ihn immer summen. Sie hörte das Zuschlagen der Autotür, das Knarren der alten Holztreppe, seine sanfte Stimme, und sie hörte …
… die Glocke.
Die Glocke läutete wieder.
Lucy hörte den Klang von weither, als läutete sie am Ende des langen Abflussrohres, in das sie gekrochen war. Einen winzigen Augenblick lang roch sie das Abwasser und spürte die Feuchtigkeit in der Luft. Dann war es wieder vorbei.
Lucy schaute sich um. Es dauerte einen Moment, bis sie begriff, wo sie war. Sie war im Hotel. Im Le Jardin. Sie kannte jeden Winkel dieses Hauses. Sie hob die Arme und ertastete über ihrem Kopf den dunklen Schrank.
Wie viel Zeit war vergangen? Sie wusste es nicht. Lucy stand auf, öffnete die Schranktür und trat hinaus. Die Luft hatte sich auf eine Weise verändert, die nur jemandem auffallen konnte, der Tag für Tag hier war und die Wände, die Decke, die Ecken und die Atmosphäre kannte.
Die Zimmertür war geschlossen. Lucy schaute auf die Uhr. Sie hatte nicht lange im Schrank gesessen. Sie musste dieses Zimmer verlassen. Mr. Archer konnte jede Sekunde zurückkehren.
Als sie gerade loslaufen wollte, wurde ihr schwindlig. Sie setzte sich kurz auf die Bettkante. Der Schwindel verging, aber irgendetwas stimmte nicht. Unter ihr fühlte es sich feucht an. Lucy stand auf und starrte auf ihre Hände. Sie waren voller Blut. Sie drehte sich um und bemerkte in dem düsteren Licht die Umrisse unter dem blutgetränkten Bettlaken.
Lucy spürte, dass ihr der Mageninhalt hochkam. Sie wich zurück in dem Gefühl, ihr Herz würde gleich zerspringen. Sie konnte den Brechreiz nicht länger
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