Echo des Blutes: Thriller (German Edition)
unten zeigte. Einige nette Gäste versuchten, die Handtücher wieder so hinzuhängen, wie sie ursprünglich hingen, aber Lucy hatte natürlich einen geschulten Blick dafür. Sie hingen niemals genau wie zuvor. Man merkte auch an der Feuchtigkeit und dem süßlichen Duft des Duschgels oder des Shampoos in der Luft, ob jemand geduscht oder gebadet hatte.
Lucy ging zurück zur Zimmertür, drückte ein Ohr dagegen und lauschte ein paar Sekunden. Stille. Sie ging auf den Schrank zu und öffnete die Tür. Der Kleidersack hing darin wie ein Toter am Galgen. Langsam griff sie in den Schrank und drehte mit zitternder Hand das Namensschild um.
Dieser Kleidersack gehört George Archer.
Lucy lief ein kalter Schauer über den Rücken. Er hieß George Archer. All die Jahre hatte sie sich vorzustellen versucht, wie ihr Kidnapper wohl hieß. Jeder Mensch hatte einen Namen. Sobald sie eine Zeitung oder Zeitschrift las, sich einen Film oder eine TV-Show ansah oder zum Beispiel im Wartezimmer eines Arztes oder bei der Kraftfahrzeugbehörde saß und jemand laut einen Namen sagte, fragte sie sich: Ist das sein Name? Könnte diese Person der Mann in ihren Albträumen sein? Jetzt wusste sie es. George Archer. Es war ein vollkommen harmloser Name, doch Lucy versetzte er in Angst und Schrecken.
Sie schloss die Schranktür, lief mit laut klopfendem Herzen schnell auf die Kommode zu und öffnete sie. Dort lagen noch immer dieselben Hemden – ein blaues, ein weißes und ein weißes mit schmalen grauen Streifen. Lucy prägte sich ihre exakte Lage in der Schublade ein, damit sie sie genau so wieder dorthin zurücklegen konnte. Als sie die drei Hemden herausnahm, kam es ihr fast so vor, als wären sie heiß. Doch als sie dann unter den Hemden nachschaute, sah sie, dass das Foto verschwunden war.
Hatte sie sich das nur eingebildet?
Nein. Es hatte dort gelegen. Lucy hatte dieses spezielle Foto nie zuvor gesehen, doch sie wusste, wo es aufgenommen worden war: in einer Eisdiele in der Wilmot Street. Es war ein Foto ihrer Mutter, auf dem sie den roten Pullover trug, den Lucy bei Sears in dem Einkaufscenter gestohlen hatte.
Lucy drehte sich um und ließ den Blick durch das Zimmer schweifen. Plötzlich erschien es ihr fremd, als wäre sie noch nie hier gewesen. Als sie die Hemden ordentlich zurück in die Schublade legte, bemerkte sie, dass in der Brusttasche des oberen Hemdes, des blauen, etwas steckte. Es war ein Blatt von den Notizblöcken des Le Jardin.
Lucy nahm das Blatt heraus und las es durch. Dort stand:
Wir treffen uns hier am Sonntagabend um halb zehn. Liebe Grüße von Lucy.
Es war ihre Handschrift.
Es war eine Notiz, die sie geschrieben und in dieses Zimmer gelegt hatte, damit Mr. Archer sie fand.
Sie schaute auf die Uhr. 21.28 Uhr.
Plötzlich drehte sich das Zimmer vor ihren Augen. Einen Augenblick lang hatte Lucy das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Sie schlug die Schublade zu. Dass alles so aussah wie zuvor, war nicht mehr wichtig. Nun zählte nur noch, dass sie so schnell wie möglich dieses Zimmer verließ.
Sie wich von der Kommode zurück, als würde sie brennen und dann hörte sie …
… die Glocke.
Ihre Glocke. Ihre spezielle Glocke.
Jetzt war Lucy ganz ruhig und mit sich im Reinen. Sie wusste, was sie tun musste. Sie ging zur Zimmertür und riss sie auf. Dann kehrte sie zum Schrank zurück, setzte sich hinein und schloss die Tür.
Im Schrank roch sie den Duft der Äpfel und des Pfeifenrauchs, die Gerüche, die George Archer umgaben, die Gerüche des Bösen. Aber dieses Mal hatte sie keine Angst.
Als sich Schritte dem Schrank näherten – Schritte von zwei Personen im Abstand weniger Minuten –, brach die Dunkelheit über Lucy Doucette herein, und sie erinnerte sich wieder an alles.
»Es ist alles in Ordnung, Eve«, sagte er. »Es hat einen Unfall gegeben. Ich kümmere mich um dich.«
Er streckte die Hand aus. An einem Finger trug er einen Schlangenring. Dicker Rauch verdunkelte den Himmel.
»Was für einen Unfall?«, fragte sie.
Mr. Archer öffnete die Tür seines Wagens. Lucy stieg ein. »Einen Flugzeugabsturz«, sagte er. »Einen schlimmen Flugzeugabsturz.«
»Wo ist meine Mutter?«
»Sie möchte, dass ich auf dich aufpasse. Sie hilft den Menschen an der Unglücksstelle, wo das Flugzeug abgestürzt ist.«
»Meine Mutter hilft ihnen?«
»Ja, Eve.«
Mr. Archer startete den Wagen.
Er führte sie die schmale Holztreppe hinunter und dann durch eine schmale Tür in einen zugigen Raum
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