Echo des Blutes: Thriller (German Edition)
einem heruntergekommenen Reihenhaus aus der Nachkriegszeit in der West Tioga Street in Nicetown, im Norden von Philadelphia. Nicetown war ein Arbeiterviertel, das sich nach drei Jahrzehnte lang andauerndem langsamem Verfall, der mit der Schließung der Großbäckerei Tastykake 2007 seinen Höhepunkt erreichte, allmählich wieder erholte. Irgendwann hieß es mal, Trump Entertainment wolle ein Kasino auf der Hunting Park Avenue bauen. Das geschah aber nicht. Die Diskussionen der Bewohner und Geschäftsbesitzer in Nicetown, ob sie ihre Anwesen verkaufen sollten oder nicht, nahmen kein Ende.
Ehe sie das Roundhouse verließen, bat Jessica Josh Bontrager, Kenneth Arnold Beckman zu überprüfen. Bontrager würde sie anrufen, falls er etwas herausfand.
Als Jessica und Byrne gegenüber des Beckman-Hauses in der Nähe der Schuyler Street anhielten, begann es zu regnen. Der Wind frischte auf, und als sie auf die Veranda traten, sammelte sich zu ihren Füßen das nasse Laub.
Jessica klingelte drei Mal, ehe sie bemerkte, dass unten aus der verrosteten Klingel ein Draht heraushing. Sie funktionierte nicht. Ein schneller Blick auf die verfallene Veranda mit den schiefen Stützpfeilern und dem Mauerwerk, das dringendst neu verfugt werden musste, erklärte, warum. Sie klopfte – zuerst leise. Beim zweiten Mal klopfte sie lauter. Schließlich hörten sie, dass die Riegel zur Seite geschoben wurden. Es waren drei.
Die Frau, die ihnen öffnete, war Ende vierzig. Ihr Make-up sah aus, als hätte sie es mit einem Spachtel aufgetragen. Sie hatte graues, dauergewelltes Haar und trug eine schwarze Capri-Hose und verschlissene, rosafarbene Laufschuhe. In einem Mundwinkel hing eine brennende Zigarette.
Sie musterte Byrne von oben bis unten und warf Jessica einen Seitenblick zu.
»Sind Sie Mrs. Beckman?«, fragte Byrne.
»Nun ja«, erwiderte die Frau. »Das hängt von zwei Dingen ab, oder nicht?«
»Und die wären?«
»Wer Sie sind und was zum Teufel Sie von mir wollen.«
Oje, dachte Jessica. Eine reizende Person.
Byrne zog seine Dienstmarke heraus und hielt sie ihr unter die Nase. Sie starrte viel zu lange darauf. Jessica nahm an, dass die Frau es auf ein Machtspielchen anlegte. Allerdings wusste sie nicht, dass Kevin Byrne sich in solchen Situationen durch absolut nichts aus der Ruhe bringen ließ. Sie schaute Jessica an und runzelte die nachgezogenen Augenbrauen. Jessica langte in die Tasche und zeigte Mrs. Beckman ebenfalls ihre Dienstmarke. Die Frau schniefte und wandte sich wieder Byrne zu.
»Gut, das beantwortet eine meiner Fragen«, sagte sie.
»Können wir reinkommen?«, fragte Byrne.
Die Frau blinzelte mehrmals, als spräche Byrne eine fremde Sprache. »Können Sie mich hören?«, fragte sie.
»Ma’am?«
»Hören Sie meine Stimme?«
»Ja«, sagte Byrne. »Ich höre Ihre Stimme.«
»Gut. Ich höre Sie auch. Dann können wir gleich hier draußen sprechen.«
Jessica spürte, dass nicht mehr viel fehlte, bis Byrne doch der Geduldsfaden riss. Er zog sein Notizbuch aus der Tasche und blätterte darin. »Wie heißen Sie mit Vornamen, Ma’am?«
»Sharon«, erwiderte sie zögernd.
»Ist Kenneth Arnold Beckman Ihr Ehemann?«
Die Frau schnaubte verächtlich. »Ehemann? So kann man es auch ausdrücken.«
»Sind Sie mit ihm verheiratet, Ma’am?«
Die Frau zog an der Zigarette. Die Nikotinflecken auf den Fingern reichten bis zu den Knöcheln. Sie blies den Rauch aus und sagte: »Nur noch auf dem Papier.«
»Wann haben Sie ihn zum letzten Mal gesehen?«
»Warum?«
»Wenn Sie bitte meine Frage beantworten würden, Ma’am. Ich erkläre Ihnen gleich, warum.«
Sie zog wieder an der Zigarette. Jessica schätzte, dass Sharon Beckman während der Befragung anderthalb Packungen Zigaretten schaffen würde, wenn das in diesem Tempo weiterging. »Gestern Nachmittag.«
»Um wie viel Uhr?«
Sharon seufzte. »Gegen drei.«
»Und wo?«
»Im MGM Grand in Las Vegas. Ich arbeite da als Tänzerin.«
Byrne starrte die Frau an. Sie verdrehte die Augen.
»Genau da, wo Sie jetzt stehen. Ich glaube, er hat gesagt: ›Mach die Küche sauber, du faule Schlampe.‹ Er kann ausgesprochen nett sein.«
Der Wind wurde stärker und trieb den kalten Nieselregen über die Veranda. Byrne trat ein Stück zur Seite, sodass Sharon der Regen nun voll im Gesicht traf.
»War er allein?«
»Ja«, sagte Sharon Beckman und trat einen Schritt zurück. »Ausnahmsweise.«
»Und er ist gestern Nacht nicht nach Hause gekommen?«
Die Frau schnaubte wieder.
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