Echo des Blutes: Thriller (German Edition)
»Warum sollte er mit seinen Gewohnheiten brechen?«
Byrne setzte die Befragung unbeirrt fort. »Wohnt sonst noch jemand hier im Haus?«
»Nur mein Sohn.«
Mein Sohn, dachte Jessica. Nicht unser Sohn.
»Wie alt ist er?«
Die Frau lächelte. Die Zähne hatten dieselbe Farbe wie ihre vom Nikotin verfärbten Fingerknöchel. »Ich bitte Sie, Officer. Wenn ich es Ihnen sagen würde, wüssten Sie ja, wie alt ich bin.« Als Byrne nichts erwiderte, sich nicht rührte und sich durch die kokette, charmante Art nicht aus der Ruhe bringen ließ, funkelte sie ihn böse an und zog wieder an der Zigarette. »Er ist neunzehn«, sagte sie schließlich. »Ich habe ihn bekommen, als ich sechs war.«
Byrne machte sich eine Notiz und fragte sie nach dem Namen des Jungen. Er hieß Jason Crandall.
»Wo arbeitet Ihr Mann?«
» Eh , verdammt! Wollen Sie ein Buch schreiben? Meine Autobiografie vielleicht?«
»Ma’am, wir versuchen nur …«
»Nein. Sagen Sie mir jetzt endlich, was Sie von mir wollen, oder Sie können mich mal. Ich kenne meine Rechte.«
Sie mussten ihr sagen, warum sie hier waren. Jessica beobachtete die Frau aufmerksam, um zu sehen, wie sie die Information aufnahm. Für Ermittler war die erste Reaktion auf die Nachricht, dass ein geliebter Mensch – oder auch ein nicht so geliebter – getötet worden war, äußerst aufschlussreich.
»Mrs. Beckman, Ihr Mann wurde gestern getötet.«
Die Frau atmete tief ein, zeigte aber ansonsten kaum eine Reaktion. Nur ihre Hände zitterten leicht, worauf die Zigarettenasche auf den Boden fiel. Sie starrte einen Moment auf die Straße und sah dann Jessica wieder an. »Wie ist es dazu gekommen?«
Dazu gekommen, dachte Jessica. Die meisten Menschen riefen »Was?« oder »O mein Gott!« oder »Nein!« oder etwas in der Art. Wie ist es dazu gekommen? Nein, kaum jemand fragte, warum ein Toter tot war. Solche Fragen wurden meist erst viel später gestellt.
»Dürfen wir reinkommen, Ma’am?«, fragte Byrne. »Es ist ziemlich unangenehm hier draußen.«
Durch die Nachricht hatten die Entschlossenheit und die Feindseligkeit der Frau einen Dämpfer bekommen. Ohne ein Wort zu sagen, öffnete sie die Tür und trat zur Seite.
Jessica und Byrne betraten das dreigeschossige Haus, eines dieser typischen Reihenhäuser mit einer langen Veranda auf der Vorderseite. Das heruntergekommene Haus war vergleichsweise groß und verfügte vermutlich über knapp hundertvierzig Quadratmeter Wohnfläche. Es hatte sein Haltbarkeitsdatum längst überschritten.
Linker Hand lag das Wohnzimmer, und der Flur führte zur Küche und zu der Treppe im hinteren Teil des Hauses. Die Wände waren in einem tristen, verblichenen Babyblau gestrichen. Die Einrichtung bestand aus bunt zusammengewürfelten, abgenutzten Möbeln und einer durchgesessenen Polstergarnitur. Auf dem Couchtisch standen neben einem vollen Aschenbecher die Reste eines Gerichts von Weight Watchers. Auf nahezu allen Oberflächen lagen Katzenhaare. Es roch nach Popcorn aus der Mikrowelle.
Sharon Beckman bot ihnen keinen Platz an. Jessica hätte auch dankend abgelehnt.
»Ma’am«, fuhr Byrne fort. »Wir sind hier, weil Ihr Mann einem Mord zum Opfer gefallen ist. Wir versuchen herausfinden, wer das getan hat, damit wir den Täter vor Gericht stellen können.«
»Ja? Dann sehen Sie mal in den Spiegel, verdammt!«, zischte Mrs. Beckman.
»Ich verstehe Ihre Wut«, sagte Byrne. »Aber wenn Ihnen irgendetwas einfällt, was uns helfen könnte, wären wir Ihnen sehr dankbar.«
Mrs. Beckman zündete sich an der Zigarette eine neue Salem an und hielt sie einen kurzen Augenblick beide fest – in jeder Hand eine.
»Fällt Ihnen jemand ein, der Probleme mit Ihrem Mann hatte?«, fragte Byrne. »Schuldete er jemandem Geld? Hatte er mit jemandem geschäftliche Probleme?«
Die Frau nahm sich fünf Sekunden Zeit für die Antwort. Vielleicht hatte sie etwas zu verbergen.
»Brauche ich einen Anwalt?«, fragte Sharon Beckman dann und drückte den Zigarettenstummel aus.
»Haben Sie etwas Unrechtes getan, Mrs. Beckman?« Diese Frage gehörte zum Standardrepertoire eines jeden Polizisten in der ganzen Welt, wenn Verdächtige nach einem Anwalt riefen.
»Eine Menge«, sagte sie.
Falsche Antwort, dachte Jessica. Sharon hielt ihre Antwort für clever, aber sie wusste nicht, dass sie ein Bild von ihr zeichneten und dass jeder Strich von Bedeutung war.
»Dann kann ich Ihre Frage beantworten«, sagte Byrne. »Wenn Sie das Gefühl haben, jetzt einen Anwalt zu
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