Echo des Blutes: Thriller (German Edition)
Tür.
Jessica erstarrte. Vor ihr auf dem Boden des Schrankes saß unter einem großen Plastikmüllsack, der mit stinkenden Abfällen so vollgestopft war, dass er beinahe platzte, ein kleiner Junge. Er war nicht älter als zwei Jahre. Ein dunkelhaariger kleiner Junge, der ein zerrissenes T-Shirt und eine Windel trug. Offenbar war er unter den Müllsack gekrochen, um sich zu wärmen.
Jessica hob den Jungen aus dem Schrank. Er zitterte vor Angst und bot in seiner schmutzigen Windel einen erbarmungswürdigen Anblick. Seine Arme und Beine waren mit Ausschlag bedeckt.
»Alles ist gut, kleiner Mann«, sagte Jessica. »Alles ist gut.«
Als Jessica das Haus verließ, entdeckte sie auf einem kleinen Tisch neben der Eingangstür einen Stapel Papiere. Es waren größtenteils unbezahlte Rechnungen, Werbeflyer von Pizzerien und chinesischen Schnell-Restaurants und Bescheide, dass Wasser, Strom oder Telefon abgestellt wurden. Auf dem Tisch lag auch das Foto eines Babys auf einem schmutzigen Betttuch. Jessica erkannte die Augen sofort wieder. Es war der kleine Junge, den sie in den Armen hielt. Sie drehte das Bild um. Dort stand: Carlos mit drei Monaten.
Der kleine Junge hieß Carlos.
Jessica nahm den Jungen mit ins Roundhouse. Ein Mitarbeiter des Jugendamtes würde ihn später abholen. Sie hatte unterwegs an einem Geschäft angehalten und Windeln, Pflegetücher, Körperlotion und Puder gekauft. Es war schon eine Weile her, dass sie Sophie wickeln musste, doch das war wie mit dem Radfahren: Man verlernte es nicht.
Nachdem Jessica Carlos’ Windel gewechselt hatte, saß der kleine Knirps sauber und gekämmt auf einem Stapel Telefonbücher an einem der Schreibtische. Sie hatten ihn mit einem leeren Munitionsgurt an den Stuhl gebunden. Jemand hatte irgendwo ein Kinder-Sweatshirt von den Philadelphia Eagles aufgetrieben. Da es etwas zu groß war, krempelten sie die Ärmel hoch und klebten sie behutsam mit Tesafilm an den Handgelenken des Jungen fest.
Die Mutter des Jungen, Patricia Lentz, musste sich auf eine Mordanklage gefasst machen, und eine Verurteilung war so gut wie sicher. Sie hatten die Mordwaffe, und die Ergebnisse der ballistischen Untersuchungen lagen vor. Patricia Lentz würde lange Zeit nicht zurückkehren. Wenn sie das Gefängnis eines Tages wieder verlassen durfte, würde Carlos selbst schon Kinder haben.
»Was passiert jetzt mit Carlos?«, fragte Byrne und holte Jessica in die Gegenwart und zu dem neuen Fall zurück.
Jessica atmete tief durch. Auf keinen Fall würde sie in diesem Raum, außer Wut, irgendwelche Gefühle zeigen – auch ihrem Partner gegenüber nicht, der sie besser kannte als jeder andere.
»Nichts«, sagte sie. »Sie haben Patricias Schwester bis jetzt nicht gefunden. Sie soll auch drogenabhängig sein, und zwar noch schlimmer als ihre Schwester.«
Es war kein Geheimnis – Kevin Byrne wusste es auf jeden Fall –, dass Jessica und Vincent seit zwei Jahren ein zweites Kind zu bekommen versuchten. Sophie war jetzt sieben Jahre alt, und je länger sie warteten, desto größer würde der Altersunterschied zwischen den Geschwistern sein. Davon rieten alle Ratgeber ab. Schon allein der Gedanke, die gewaltige Aufgabe auf sich zu nehmen und Carlos zu adoptieren, war natürlich lächerlich. Auf jeden Fall bei Licht betrachtet. Wenn Jessica mitten in der Nacht wach im Bett lag, schien alles möglich zu sein. Doch dann ging die Sonne wieder auf, und sie begriff, dass es niemals wahr würde.
»Wie geht es ihm?«, fragte Byrne.
»Gut, nehme ich an.« Jessica wusste nicht, ob das der Wahrheit entsprach, aber was sollte sie sonst sagen?
»Wenn du möchtest, können wir am Kinderheim vorbeifahren und nachsehen, wie es ihm geht.«
Je eher Jessica den Jungen losließ, desto besser. »Klar. Das wäre schön«, sagte sie dennoch.
Ehe sie weiter über den Jungen sprechen konnten, steckte Nicci Malone den Kopf in den Raum. »Kevin, da ist ein Anruf für dich.«
Byrne durchquerte das Büro, drückte auf die Taste und meldete sich. Kurz darauf zog er das Notizbuch aus der Tasche, schrieb etwas hinein und streckte die Faust in die Luft. Offenbar hatte er gute Nachrichten erhalten. Jessica konnte gute Nachrichten gebrauchen.
Byrne legte auf und griff nach seiner Jacke. »Das war die Kriminaltechnik. Sie haben die Fingerabdrücke überprüft.«
»Sind sie im System?«, fragte Jessica.
»Ja, sind sie. Unser glatt rasierter toter Mann hat einen Namen. Kenneth Arnold Beckman.«
11.
Die Beckmans wohnten in
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