Echo Einer Winternacht
Er hat ein halbes Gesicht. Die andere Hälfte ist eine Plastikmaske, die er über dem verbrannten Gewebe tragen muss. Du hast ihn wahrscheinlich schon mal auf der Straße oder dem Fußballplatz gesehen. Man übersieht ihn nicht leicht. Mein Vater hat mich damals zu einem Besuch im Krankenhaus mitgenommen. Ich war erst fünf. Und es hat mich völlig verstört. Ich stellte mir immer vor, was hinter der Maske war. Nachts wachte ich schreiend auf, weil ich ihn im Traum sah. Manchmal, wenn die Maske weg war, waren dort Maden. Manchmal war es nur eine blutige Fläche wie die Illustrationen in deinen Lehrbüchern für Anatomie. Am schlimmsten war es, wenn die Maske abgenommen wurde und nichts da war, nur glatte Haut mit Andeutungen dessen, was dort sein sollte.« Er hustete. »Deshalb habe ich Angst einzuschlafen.«
Ziggy legte Alex den Arm um die Schultern. »Das ist schlimm, Alex. Aber die Sache ist ja, du bist jetzt älter. Was wir letzte Nacht gesehen haben, gehört mit zum Schlimmsten, was es gibt. Deine Phantasie kann es wirklich nicht sehr viel schlimmer machen. Was immer du jetzt träumst, es wird nicht halb so schlimm sein wie Rosie wirklich so gesehen zu haben wie wir.«
Alex wünschte, er könnte in Ziggys Worten mehr Trost finden.
Aber er spürte, dass sie nur die halbe Wahrheit waren.
»Ich nehme an, wir alle werden nach dieser Nacht mit Dämonen zu kämpfen haben«, sagte er.
»Manche davon sind konkreter als andere«, sagte Ziggy, nahm seinen Arm zurück und legte die Hände ineinander.
»Ich weiß nicht wieso, aber Maclennan hat irgendwie gemerkt, dass ich schwul bin.« Er biss sich auf die Lippe.
»Oh Scheiße«, sagte Alex.
»Du bist der einzige Mensch, dem ich es je gesagt habe, weißt du das?« Ziggys Mund verzog sich zu einem sarkastischen Lächeln. »Na ja, außer den Typen, mit denen ich zusammen war, natürlich.«
»Natürlich. Woran hat er es gemerkt?«, fragte Alex.
»Ich war vorsichtig genug, nicht zu lügen, und er hat irgendwo dazwischen die Wahrheit ausgemacht. Und jetzt mache ich mir Sorgen, dass es sich weiter herumspricht.«
»Warum sollte es das?«
»Du weißt doch, wie gern die Leute tratschen. Ich nehme an, dass Polizisten in dieser Beziehung nicht anders sind als alle anderen Menschen. Sie werden bestimmt mit der Uni reden.
Wenn sie Druck auf uns ausüben wollten, wäre das eine Möglichkeit dazu. Und was wäre, wenn sie kommen und uns zu Hause in Kirkcaldy besuchen? Was ist, wenn Maclennan es für eine clevere Idee hält, es meinen Eltern zu sagen?«
»Das wird er nicht tun, Ziggy. Wir sind doch nur Zeugen. Es kommt für ihn nichts dabei heraus, wenn er uns verärgert.«
Ziggy seufzte. »Ich wollte, ich könnte dir glauben. Soweit ich es beurteilen kann, behandelt uns Maclennan eher wie Tatverdächtige als wie Zeugen. Und das bedeutet, er wird jede Möglichkeit nutzen, uns unter Druck zu setzen, stimmt’s?«
»Ich glaube, du bist paranoid.«
»Vielleicht. Aber was ist, wenn er etwas zu Weird oder Mondo sagt?«
»Sie sind doch deine Freunde. Wegen so etwas werden sie sich nicht von dir abwenden.«
Ziggy lachte sarkastisch. »Ich sage dir, was passieren wird, wenn Maclennan verrät, dass ihr bester Kumpel schwul ist. Ich glaube, Weird würde auf mich losgehen, und Mondo würde sich, solange er lebt, weigern, mit mir zusammen eine Toilette zu betreten. Sie haben eine Phobie vor Homosexuellen, Alex.
Das weißt du doch.«
»Sie kennen dich schon ihr halbes Leben lang. Das würde viel mehr ins Gewicht fallen als blöde Vorurteile. Ich bin ja auch nicht ausgeflippt, als du es mir gesagt hast.«
»Genau deshalb hab ich dir’s ja erzählt. Weil du nicht einer dieser primitiven Kerle bist, die ohne jede Überlegung handeln.«
Alex schaute ihn mit ironischem Lächeln an. »Es war kein allzu großes Risiko, es einem zu erzählen, dessen Lieblings-maler Caravaggio ist, glaube ich. Aber sie sind doch auch keine gedankenlosen Rüpel, Ziggy. Sie würden es akzeptieren und vor dem Hintergrund dessen, was sie über dich wissen, neu betrachten. Ich glaube wirklich nicht, dass du dich deswegen aufregen solltest.«
Ziggy zuckte die Schultern. »Vielleicht hast du recht. Aber ich würde es lieber nicht darauf ankommen lassen. Und selbst wenn sie es akzeptieren, was passiert denn, wenn es draußen bekannt wird? Keiner der englischen Jungs von den exklusiven Schulen, die als Jugendliche miteinander geschlafen haben, hat doch etwas davon verlauten lassen, oder? Sie laufen doch alle
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