Echo gluecklicher Tage - Roman
allem nur das Schlimmste sah. »Du musst aufhören, alles mit zu Hause zu vergleichen, Sam. Wir hatten wirklich Glück, dass die Langworthys uns nach dem Feuer aufgenommen haben. Aber diese Art von Glück ist selten. Manchmal denke ich, dass es uns ganz gutgetan hätte, wenn wir gezwungen gewesen wären, so zu leben wie die meisten anderen Leute; dann wären wir nämlich nicht so naiv gewesen. Und wenn du nicht jeden Tag auf dem Schiff aus dem Zwischendeck geflohen wärst, dann hättest du das ein oder andere über die einfachen Leute lernen können.«
Er erschauderte, und Beth seufzte innerlich. In den letzten Wochen hatte sie entdeckt, dass ihr Bruder Schwächen hatte, und sie war nicht sicher, ob er sie ablegen konnte.
Es war nicht so, dass er ein Snob war – er sah nicht wirklich auf Leute herunter. Er fand nur, dass er ein besseres Leben verdiente, und er weigerte sich, auch nur darüber nachzudenken, mit den Händen zu arbeiten. Er war fasziniert von Reichtum und jedem hörig, der ihn besaß, und weil er sich auf dem Schiff mit seinem Charme so leicht den Weg in die zweite Klasse gebahnt hatte und von den reichen Gästen zu Hause im Adelphi so gemocht worden war, verstand er nicht, warum sein Charme hier nicht funktionierte.
Aber Beth wusste, woran das lag. Die New Yorker waren alles in allem laut und oft aggressiv. Sams Wirkung beruhte auf seinem guten Aussehen, seiner angenehmen Stimme, seinen strahlend blauen Augen und der Tatsache, dass er so englisch war. Er hätte Erfolg gehabt, wenn er bereits reich gewesen wäre und auf der Fifth Avenue wohnen würde, aber ein Mann, der nach Arbeit suchte, musste sich stark und zupackend präsentieren.
Jack arbeitete in einem Schlachthaus in der East Side. Er meinte, es wäre die härteste Arbeit, die er jemals gemacht hätte, ein stinkender, furchtbarer Job, aber die Bezahlung war gut, und er hatte dort viele Freunde gefunden. Er hatte angeboten, Sam dort unterzubringen, aber Beth wusste, dass ihr Bruder lieber verhungern würde, als dort anzufangen.
Es war so schön gewesen, Jack heute wiederzusehen. Sie hatten bei ihrer Ankunft in New York einen Pakt geschlossen, dass sie sich auf den Tag genau einen Monat später um halb fünf am Castle Green treffen würden, das in der Nähe der Stelle lag, wo sie angelegt hatten.
Beth hatte nicht wirklich erwartet, dass Jack kommen würde – ein ganzer Monat in einer neuen Stadt konnte ein hastig gegebenes Versprechen schnell in Vergessenheit geraten lassen. Aber da war er und sah sehr schick aus in seinem karierten Jackett, der gebügelten Hose und den polierten Schuhen. Er erzählte ihr, dass es ihm gelungen war, ein paar Stunden früher Schluss zu machen, weil er seinem Chef gesagt hatte, dass eine Verwandte von ihm aus England käme.
Er war ehrlich genug zuzugeben, dass er in einem Mietshaus wohnte und sich ein Zimmer mit sechs Leuten teilte, aber er betonte, dass er in Liverpool schon ähnlich gewohnt hatte. Lachend gestand er ein, dass er sein Jackett und die Hose im Secondhand-Laden gekauft und einem Mädchen aus der Wäscherei schöne Augen gemacht hatte, um es dazu zu überreden, beides für ihn zu bügeln. Aber so schrecklich sein Job auch zu sein schien, es war offensichtlich, dass er sich voll in sein neues Leben gestürzt hatte. Er sah gesünder und muskulöser aus als auf dem Schiff und wirkte sehr viel selbstbewusster.
Als Beth ihn verließ, war sie sehr viel hoffnungsvoller gewesen, und das nicht nur, weil sie sich in ein paar Tagen erneut treffen wollten, sondern auch, weil er ihr einen Vorschlag gemacht hatte, wie sie und Sam hier Fuß fassen konnten.
»Hör zu, Sam«, sagte Beth mit fester Stimme. »Warum suchst du dir nicht einen Job als Barkeeper in der Bowery? Da gibt es jede Menge Arbeit.«
Er riss erschrocken die Augen auf. »Ich arbeite doch nicht in einer von diesen Spelunken.«
»In fast allen Bars in New York geht es ein bisschen rau zu«, erklärte sie ihm geduldig. Sie war zwar in noch keiner gewesen, aber Jack hatte ihr das erzählt. »Du musst Erfahrungen haben, bevor dich jemand in einem Top-Hotel oder einem privaten Club anstellt. Und ich habe einen Plan. Wenn du dort als Barkeeper arbeitest, dann könnte ich dort Geige spielen.«
Sam sah sie entsetzt an. »In der Bowery? Bei all diesen ...«
»Ja, bei den Männern, die dort verkehren«, schnitt Beth ihm das Wort ab. »Ich kann es nur machen, wenn jemand auf mich aufpasst, aber ich weiß, dass diesen Männern mein Spiel wirklich
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