Echo Park
Prostitution nachgingen, um sich das nötige Geld für ihren Drogenkonsum zu beschaffen.
Für Bosch ging aus den zusammengetragenen Beweisstücken und Informationen hervor, dass Waits ein Serienmörder war, der sich ganz gezielt junge Frauen ausgesucht hatte, die nicht sofort vermisst wurden, Randexistenzen, von denen die Gesellschaft keine Notiz nahm und deren Verschwinden nicht weiter auffiel.
Die Polaroidfotos aus dem Geheimfach in Waits’ Wohnung befanden sich in der Akte, jeweils vier pro Seite, in einer Klarsichthülle. Es waren acht Seiten mit mehreren Aufnahmen von jeder Frau. Eine beigefügte Auswertung war zu der Feststellung gelangt, dass die Fotosammlung Aufnahmen von neun verschiedenen Frauen enthielt – die beiden, deren Überreste in Waits’ Lieferwagen gefunden worden waren, und sieben Unbekannte. Bosch nahm zwar an, dass es sich bei den Unbekannten um die sieben Frauen handelte, zu denen Waits den Behörden zusätzlich zu Marie Gesto und dem Pfandleiher Angaben machen wollte, suchte aber auf den Fotos trotzdem nach dem Gesicht von Marie Gesto.
Es war jedoch nicht darunter. Die Gesichter auf den Fotos gehörten Frauen, deren Verschwinden nicht so viel Aufsehen erregt hatte wie das Marie Gestos. Bosch lehnte sich zurück und nahm seine Lesebrille ab, um seinen Augen etwas Entspannung zu gönnen. Er musste an einen seiner früheren Lehrer im Morddezernat denken. Detective Ray Vaughns besonderes Mitgefühl hatte all jenen gegolten, die er »namenlose Tote« nannte, die Opfer, die nicht zählten. Er brachte Bosch schon früh bei, dass für die Gesellschaft nicht alle Opfer gleich waren, dass sie es für den guten Detective aber sein mussten.
»Sie alle waren jemandes Tochter«, hatte ihm Ray Vaughn gesagt. »Jede von ihnen zählt.«
Bosch rieb sich die Augen. Er dachte an Waits’ Angebot, neun Morde aufzuklären, die Morde an Marie Gesto, Daniel Fitzpatrick und an sieben weiteren Frauen, von denen nie jemand Notiz genommen hatte. Irgendetwas daran kam ihm eigenartig vor. Fitzpatrick war insofern eine Abweichung, als er ein Mann war und hinter seiner Ermordung keine sexuellen Motive zu stehen schienen. Bosch hatte immer angenommen, Marie Gesto sei ein Sexualmord gewesen. Aber sie war kein namenloses Opfer gewesen. Ihr Verschwinden hatte hohe Wellen geschlagen. Hatte Waits aus ihrem Fall gelernt? Hatte er nach ihrer Ermordung sein Vorgehen verändert, um nie wieder so viel Aufmerksamkeit seitens der Polizei und der Medien auf sich zu lenken? Bosch fragte sich, ob vielleicht der Nachdruck, mit dem er im Gesto-Fall vorgegangen war, Waits veranlasst hatte, seine Vorgehensweise zu ändern und ein geschickterer und raffinierterer Mörder zu werden. Wenn das zutraf, müsste er sich mit den daraus erwachsenden Schuldgefühlen zu einem späteren Zeitpunkt auseinandersetzen. Im Moment erforderte die vor ihm liegende Aufgabe seine ganze Konzentration.
Er setzte die Brille wieder auf und wandte sich den Akten zu. Die Beweise gegen Waits waren hieb- und stichfest. Im Besitz der Leichenteile ertappt zu werden war mehr als ausreichend. Der Albtraum jedes Strafverteidigers – der Traum jedes Anklägers. Die Vorverhandlung hatte lediglich vier Tage gedauert, und nach ihrem Abschluss hatte die Staatsanwaltschaft den Einsatz noch erhöht, indem O’Shea ankündigte, für Waits die Todesstrafe zu beantragen.
Um Fragen an O’Shea, Waits und andere zu notieren, hatte sich Bosch einen Block neben die offenen Akten gelegt. Er war noch unbeschrieben, als er die Durchsicht der Ermittlungs- und Anklageakten beendete. Erst jetzt machte er sich daran, die einzigen Fragen aufzuschreiben, die ihm in den Sinn kamen.
Wenn Waits Gesto ermordet hat, warum war dann kein Foto von ihr in seiner Wohnung?
Waits wohnte in West Hollywood. Was wollte er in Echo Park?
Die erste Frage war leicht zu beantworten. Bosch wusste, Mörder durchliefen eine Entwicklung. Waits könnte aus dem Gesto-Mord gelernt haben, dass er Erinnerungsstücke an seine Taten brauchte. Er könnte erst nach Gesto angefangen haben, Fotos zu machen.
Die zweite Frage bereitete ihm mehr Kopfzerbrechen. Es gab in der ganzen Akte keinen Bericht, der sich mit dieser Frage beschäftigte. Man war einfach davon ausgegangen, dass Waits unterwegs gewesen war, um sich der Leichen zu entledigen, sie möglicherweise in den Parkanlagen rund um das Dodger Stadium zu vergraben. Dieser Frage weiter nachzugehen, war weder in Erwägung gezogen noch von irgendwem eingefordert
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