Echo Park
Irene. In Maries Wohnung war doch im Wohnzimmer dieses hohe Fenster. Erinnern Sie sich noch daran?«
»Natürlich. Das erste Jahr, als sie an Weihnachten nicht nach Hause kam, haben wir sie in L. A. besucht. Wir wollten ihr das Gefühl geben, dass unsere Beziehung in beiden Richtungen funktionierte. Dan hat den Weihnachtsbaum in diesem Fenster aufgestellt, und man konnte seine Lichter überall in der Straße sehen.«
»Ja. Wissen Sie, ob Ihre Tochter mal einen Fensterputzer damit beauftragt hat, dieses Fenster sauber zu machen?«
Darauf trat längeres Schweigen ein, und Bosch wartete. Es war eine Lücke in den Ermittlungen, ein Punkt, dem er dreizehn Jahre zuvor hätte nachgehen sollen, den er aber übersehen hatte.
»Das weiß ich nicht mehr, Harry. Tut mir leid.«
»Kein Problem, Irene. Das macht nichts. Erinnern Sie sich noch daran, wie Sie und Dan nach Bakersfield zurückgezogen sind und die Wohnung leer geräumt haben?«
»Ja.«
Sie sagte es mit belegter Stimme. Er wusste, dass sie jetzt weinte, und dass sie und ihr Mann damals das Gefühl gehabt hatten, nicht nur ihre Tochter, sondern auch die Hoffnung aufzugeben, als sie nach zwei Jahren des Suchens und Wartens nach Hause zurückgekehrt waren.
»Haben Sie ihre Sachen aufgehoben? Die ganzen Unterlagen und Rechnungen, die wir Ihnen zurückgegeben haben?«
Er wusste, wenn ein Zahlungsbeleg für einen Fensterputzer darunter gewesen wäre, wären sie diesem Anhaltspunkt nachgegangen. Trotzdem musste er sie das fragen, um ganz sicherzugehen, dass er nicht übersehen worden war.
»Ja, wir haben noch alle ihre Sachen. Sie sind in ihrem Zimmer. Wir haben einen Raum, in dem wir ihre ganzen Sachen aufbewahren. Für den Fall, dass sie …«
Doch noch nach Hause kam. Bosch wusste, ihre Hoffnung würde so lange nicht endgültig erlöschen, bis Marie, auf die eine oder andere Weise, wieder auftauchte.
»Gut«, sagte er. »Wären Sie so nett, die Schachtel durchzusehen, Irene? Wenn es möglich ist. Ich möchte, dass Sie nach einer Quittung von einem Fensterputzer suchen. Sehen Sie ihre Scheckhefte durch, ob sie einmal einen Fensterreiniger bezahlt hat. Halten Sie nach einer Firma Ausschau, die ClearView Residential Glass Cleaners heißt, oder eventuell auch nach einer entsprechenden Abkürzung. Rufen Sie mich an, wenn Sie irgendetwas finden. Wäre das möglich, Irene? Haben Sie einen Stift zur Hand? Ich habe nämlich eine neue Handynummer.«
»Alles klar, Harry«, sagte Irene Gesto. »Ich habe was zu schreiben.«
»Meine neue Nummer ist 3-2-3, 2-4-4, 5-6-3-1. Danke, Irene. Ich muss jetzt Schluss machen. Und grüßen Sie bitte Ihren Mann von mir.«
»Mache ich. Wie geht’s Ihrer Tochter, Harry?«
Er zögerte einen Moment. Im Lauf der Jahre schien er ihnen fast alles über sich erzählt zu haben. Das diente zum einen dem Zweck, die persönliche Beziehung zu ihnen aufrechtzuerhalten, gleichzeitig mahnte es ihn immer an sein Versprechen, ihre Tochter zu finden.
»Es geht ihr gut. Alles bestens.«
»In welche Klasse geht sie inzwischen?«
»In die dritte. Aber zurzeit bekomme ich sie kaum zu sehen. Sie lebt mit ihrer Mutter in Hongkong. Aber ich habe sie erst letzten Monat eine Woche besucht. Inzwischen haben sie dort drüben auch ein Disneyland.«
Er wusste nicht, warum er den letzten Satz eingeflochten hatte.
»Es ist sicher etwas ganz Besonderes für Sie, mit ihr zusammen zu sein.«
»Auf jeden Fall. Sie schickt mir sogar schon E-Mails. Damit kennt sie sich inzwischen besser aus als ich.«
Es war eigenartig, über so etwas mit einer Frau zu sprechen, die ihre Tochter verloren hatte und nicht wusste, wie oder warum.
»Hoffentlich kommt sie bald zurück«, sagte Irene Gesto.
»Ja, hoffentlich. Wiederhören, Irene. Sie können mich jederzeit auf dem Handy anrufen.«
»Wiederhören, Harry. Alles Gute.«
Sie wünschte ihm jedes Mal alles Gute. Bosch saß im Auto und dachte über das Für und Wider seines Wunsches nach, seine Tochter möchte hier in Los Angeles bei ihm leben. Er fürchtete um ihre Sicherheit an dem fernen Ort, an dem sie im Moment lebte. Er wollte sie in seiner Nähe haben, um sie beschützen zu können. Aber bedeutete es wirklich ein Mehr an Sicherheit, sie in eine Stadt zu holen, in der junge Mädchen spurlos verschwanden oder zerstückelt in einem Müllsack endeten? Wenn er ehrlich war, wusste er, dass sein Wunsch egoistisch war und er sie nicht wirklich beschützen konnte, ganz egal, wo sie lebte. In dieser Welt musste jeder nach sich
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