Echo Park
Schweigen ein, bevor sie antwortete.
»Wo bist du, Harry?«, fragte sie schließlich.
»Jetzt gerade? Unterwegs nach Chinatown, um mir etwas gebratenen Reis mit Krabben zu holen. Ich habe heute noch nicht zu Mittag gegessen.«
»Ich bin downtown. Wir könnten uns treffen. Ich habe auch noch nicht zu Mittag gegessen.«
»Weißt du, wo das Chinese Friends ist?«
»Klar. Sollen wir uns in einer halben Stunde dort treffen?«
»Ich bestelle aber schon, bevor du kommst.«
Bosch klappte das Handy zu und spürte einen Kitzel, der offensichtlich von etwas anderem herrührte als der Aussicht, Rachel Walling könnte ihm mit Waits weiterhelfen. Ihre letzte Begegnung war ungut verlaufen, aber der Ärger darüber war im Lauf der Zeit verraucht. Im Gedächtnis geblieben war ihm dagegen die Nacht, in der sie in einem Motel in Las Vegas miteinander geschlafen hatten und er geglaubt hatte, auf eine verwandte Seele getroffen zu sein.
Er sah auf die Uhr. Selbst wenn er das Essen bestellte, bevor sie eintraf, hatte er noch etwas Zeit totzuschlagen. Als er zu dem Restaurant in Chinatown kam, fuhr er an den Straßenrand und klappte erneut sein Handy auf. Bevor er Olivas das Gesto-Mordbuch ausgehändigt hatte, hatte er sich alle Namen und Telefonnummern notiert, die er vielleicht brauchen würde. Er suchte die Nummer von Marie Gestos Eltern in Bakersfield heraus und wählte. Sein Anruf wäre kein unerwarteter Schock für sie. Er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, sie jedes Mal anzurufen, wenn er die Akte aus dem Archiv holte, um sich wieder mit dem Fall zu befassen. Er dachte, das Wissen, dass er nicht aufgab, wäre ein gewisser Trost für sie.
Die Mutter der Vermissten kam ans Telefon.
»Irene, hier ist Harry Bosch.«
»Oh!«
Da war zunächst immer dieser hoffnungsvolle Ton in der Stimme, wenn einer von ihnen sich meldete.
»Es gibt leider noch nichts Neues, Irene«, sagte er deshalb rasch. »Ich hätte nur eine Frage an Sie und Dan, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«
»Aber sicher, natürlich nicht. Schön, von Ihnen zu hören.«
»Ja, schön, Ihre Stimme mal wieder zu hören.«
Es war mehr als zehn Jahre her, dass er Irene und Dan Gesto das letzte Mal gesehen hatte. Nach zwei Jahren hatten sie es aufgegeben, immer wieder nach L. A. zu kommen, in der Hoffnung, ihre Tochter doch noch zu finden. Sie hatten Maries Wohnung gekündigt und waren ganz nach Hause zurückgezogen. Danach hatte sich Bosch gelegentlich bei ihnen gemeldet.
»Was haben Sie für eine Frage, Harry?«
»Eigentlich geht es nur um einen Namen. Können Sie sich erinnern, ob Marie mal einen Ray Waits erwähnt hat? Oder vielleicht auch Raynard Waits? Raynard ist ein ungewöhnlicher Name. Vielleicht ist er Ihnen in Erinnerung geblieben?«
Er hörte sie den Atem anhalten, und ihm wurde sofort klar, dass er einen Fehler gemacht hatte. Über Waits’ Festnahme und Vorverhandlung war auch in Bakersfield von den Medien berichtet worden. Er hätte wissen müssen, dass Irene Gesto solche aufsehenerregenden Fälle in L. A. sehr genau mitverfolgte. Höchstwahrscheinlich wusste sie, was Waits zur Last gelegt wurde. Und höchstwahrscheinlich wusste sie auch, dass er der Müllsack-Mann von Echo Park genannt wurde.
»Irene?«
Vermutlich hatte ihre Fantasie ihr gerade einen entsetzlichen Moment beschert.
»Irene, es ist nicht, was Sie denken. Ich stelle nur Erkundigungen über diesen Kerl an. Ich nehme an, Sie haben in den Medien von ihm gehört.«
»Natürlich. Diese armen jungen Mädchen. So zu enden. Ich …«
Er wusste, was sie dachte, aber nicht, wie es sich für sie anfühlen musste.
»Und bevor Sie in den Nachrichten von ihm gehört haben? Erinnern Sie sich vielleicht, ob Ihre Tochter den Namen mal erwähnt hat?«
»Nein, ich kann mich nicht erinnern. Gott sei Dank.«
»Ist Ihr Mann gerade in der Nähe? Könnten Sie auch ihn fragen?«
»Er ist nicht zu Hause. Er ist noch in der Arbeit.«
Dan Gesto hatte sich zunächst voll und ganz der Suche nach seiner vermissten Tochter verschrieben. Als er schließlich nach zwei Jahren alle seine geistigen, körperlichen und finanziellen Reserven aufgebraucht hatte, war er nach Bakersfield zurückgekehrt und hatte wieder angefangen, in einer John-Deere-Vertragswerkstatt zu arbeiten. Er hielt sich jetzt damit am Leben, Farmern Landmaschinen zu verkaufen.
»Könnten Sie ihn fragen, wenn er nach Hause kommt, und mich dann anrufen, falls er sich an den Namen erinnert?«
»Geht in Ordnung, Harry.«
»Und noch etwas,
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