Echte Morde
frisch zu machen, neues Make-up aufzulegen und mich anzuziehen. Mit der Tischreservierung hatte es kein Problem gegeben, dienstags war im Kutschenhaus wohl nicht allzu viel los. Ich hatte uns für neunzehn Uhr fünfzehn angekündigt, musste mich jetzt also nur noch entscheiden, was ich anziehen wollte. Mein dunkelblaues Seidenkleid war gerade aus der Reinigung zurück - nur hatte sich bei den dazu passenden Sandaletten ein Riemchen gelockert. Hatte ich eigentlich je daran gedacht, das reparieren zu lassen? Hätte ich mir doch bloß diese schicken, hochhackigen schwarzen Schuhe gekauft, die mir am Montagmorgen im Laden von Aminas Mutter ins Auge gefallen waren. Sie hatten hinten am Absatz Schleifchen, was ich hinreißend fand. Ob mir genügend Zeit blieb, schnell im Laden vorbeizufahren und sie zu kaufen?
Fragen über Fragen - fast hätte ich gar nicht mitbekommen, dass jemand auf der anderen Seite des Regals, mit dem ich gerade befasst war, eine eintönige kleine Melodie vor sich hin summte. Das konnte nur Lillian sein. Richtig: Als ich ein Buch mit dem vielsagenden Titel: „Der humorvolle Blick eines Tierarztes auf das Leben mit Tieren in und ums Haus" aus dem Regal zog, das jemand falsch eingeordnet hatte, tauchte hinter der Lücke in der Buchreihe Lillians Gesicht auf.
„Ich finde, sie sollten uns mehr Lohn zahlen!", beschwerte sich meine Kollegin mürrisch. „Ich finde, sie sollten uns fragen, ehe sie einfach die Abendöffnungszeiten verlängern, und ich finde, sie hätten diesen neuen Bibliotheksleiter nie einstellen dürfen."
„Sam Clerrick? Abendöffnungszeiten?", fragte ich dumm, denn bisher verstand ich nur Bahnhof. Soweit ich mitbekommen hatte, war Lillian ein großer Fan Sam Clerricks gewesen, seit der die Leitung unseres Hauses übernommen hatte. Auch ich hatte nichts gegen ihn einzuwenden, er schien mir ein intelligenter, durchsetzungsfähiger Mann zu sein. Ob er allerdings auch gut mit Menschen umgehen konnte, musste sich wohl erst noch erweisen.
„Dann hast du es also noch nicht gehört?" Lillian wirkte hocherfreut. „Na ja, dein Leben war ja in letzter Zeit auch so aufregend, da steht einem der Sinn wohl nicht nach Alltagskram."
Genervt verdrehte ich die Augen. „Lillian! Was ist?"
„Ach du meine Güte!", kommentierte Lillian triumphierend, während sie sich danach bückte. „Welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?"
Daraufhin gab ich etwas von mir, was einen Tick stärker als „Mist!" war, aber lautlos, nur mit den Lippen.
Normalerweise war ich gern in der Ausleihe. Man stand am großen Tresen beim Eingang, beantwortete Fragen, nahm Bücher entgegen und auch schon einmal Geld, wenn Bücher mit Verspätung zurückkamen, versah die zurückgegebenen Bücher wieder mit den dazugehörigen Karten und legte sie auf die Bücherwagen, damit sie später in die entsprechenden Regale zurückgeschafft werden konnten. Oder man gab Bücher aus. Wenn viel zu tun war, bekam man einen Helfer zur Seite gestellt.
An diesem Abend war wenig los, was gut war, konnte ich mich doch nicht recht auf die Arbeit konzentrieren. Immer wieder gingen meine Gedanken ihre eigenen Wege. Wie nah Mutter daran gewesen war, die Praline in den Mund zu stecken. Wie Marnies Kopf von hinten ausgesehen hatte. Wie glücklich ich war, ihn nicht auch noch von vorn gesehen zu haben. Ob sich für Benjamin ein neues Lebensgefühl aufgetan hatte, nun, wo er der Mann war, der „die Leiche fand". Wie er den Tod seiner ehrgeizigen politischen Ziele verkraften mochte. Wie sehr ich mich auf das Wiedersehen mit Robin freute. Wie aufregend ich die blauen Augen Arthur Smiths fand.
Immer wieder präsentierte mir meine Fantasie halb angenehme, halb schreckliche Bilder, und ich konnte mich nur mit Mühe losreißen, um ein paar Worte mit dem ehrenamtlichen Helfer zu wechseln, der neben mir am Ausgabetresen saß. Arnie Buckley war Lizanne Buckleys Vater, ein Sechsundsechzig Jahre alter Rentner mit messerscharfem Verstand, der sich gern an einem einzigen Thema festbiss. Wenn Mr. Buckley sich für ein Thema interessierte, las er alles, was ihm dazu in die Finger kam und vergaß kaum je etwas davon wieder. Hatte er eine Sache erschöpfend beackert, interessierte sie ihn nicht mehr, und zwar unwiderruflich. Er blieb aber Experte auf dem jeweiligen Gebiet. An diesem warmen, schläfrigen Nachmittag gestand mir Mr. Buckley, dass er es langsam schwierig fand, ein neues Thema zu finden. Ich fragte ihn, wie er denn in der Vergangenheit auf
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