Echtzeit
meisten Musiker nehmen dieses Studium noch nicht wirklich ernst, weil es noch recht neu ist. Ich hab also erstmal mit Vorurteilen in den eigenen Kreisen zu kämpfen.« Sie lächelte tapfer. »Aber Lolli und ich wollen uns mit ein paar andern Musikern zusammentun, die wir während des Studiums in München kennengelernt haben.«
»Lolli, ja?« Seine Stimmung verdunkelte sich mit einem Mal. Nur allzu gern hätte er ihrem sogenannten Freund damals die Nase gebrochen, dafür, dass er ihm Nina aus den Armen gerissen hatte. »Ihr seid noch befreundet?«
»Ja, natürlich! Aber das war zwischendurch nicht so einfach.«
»Ist er auch hier?« Ohne dass er in irgendeiner Weise Kontrolle darüber hatte, stieg die Aggression in ihm hoch.
»Nein.« Sie lachte nervös. »Er ist bei seiner Familie in Pfaffenhofen.«
Erleichtert nahm Tom einen großzügigen Schluck Bier - war vermutlich gesünder für Lolli, dass er die Feiertage bei seiner Familie verbrachte.
»Sag mal, stimmt das, was Ansgar erzählt hat?« Verlegen spielte sie mit den Nieten auf ihrem Jeansrock. »Dass du nach mir gesucht hast?«
Er atmete tief durch. Es war ihm peinlich, das alles jetzt ihr gegenüber zuzugeben, auch wenn sie das meiste schon von seinem ach so tollen Freund erfahren hatte. Während er gewissenhaft nach einer Antwort suchte, die ihn nicht wie den letzten Volltrottel erscheinen ließ, durchlebte er im Zeitraffer alle Gefühle der letzten Jahre. Das ständige Auf und Ab, die Sehnsucht, das Vermissen und immer wieder der Versuch, sich von ihr los zu sagen. Er räusperte sich und sah ihr entschlossen direkt ins Gesicht. Ihre Narbe schimmerte heller als der Rest ihrer Haut und ihrer Augen. Seine Gefühle waren wieder an dem Tag angekommen, als er sie mit der Gitarre auf dem Klappstuhl entdeckt hatte. Wie sie gesungen hatte. Mit welcher Leidenschaft sie gespielt hatte. Und das Glitzern in ihrem Blick, als sie ihn aufgefordert hatte, mit ihr zu singen.
»Ja«, sagte er nur, »es stimmt.«
Sie bekam mit einem Mal einen hochroten Kopf. Beschämt sah sie auf ihre Finger, die mit äußerster Vehemenz den Stoff ihres Rockes bearbeiteten. »Lolli und ich hatten einen ziemlich großen Streit deswegen. Ich hab ihm bitterböse Vorwürfe gemacht, weil er mich von dir weg gezerrt hatte.« Sie holte tief Luft. »Wir haben fast ein halbes Jahr nicht miteinander gesprochen.«
Tom war sich nicht sicher, aber es sah so aus, als ob sie sich verstohlen eine Träne wegwischte. Etwa wegen ihm? Oder wegen Lolli? Dann hob sie ihren Kopf, ließ ihn direkt in ihre Augen sehen.
»In den Sommerferien danach sollte ich mit meinen Vater auf Tournee durch Kanada, aber ich hab so lange gequengelt, bis ich bei meiner Tante in Potsdam bleiben durfte.« Ihre Mundwinkel zuckten tapfer nach oben. »So oft es ging bin ich nach Berlin rein gefahren, um dich zu suchen.« Hilflos zuckte sie mit ihren Schultern.
Aus einem Impuls heraus hob er die Hand und legte seine Fingerspitzen ganz sachte auf ihre Wange. Mit dem Daumen fuhr er über ihre Narbe. Nina war so hübsch.
»Ach, hier bist du!«
Katrin schob sich rabiat zwischen sie und er war gezwungen, seine Hand wieder von Ninas Gesicht zu nehmen. Deutlich drückte Katrin sich an ihn und schlang ihre Arme um seine Taille.
»Du bist Nina, oder?«, zischte sie. »Ich bin Katrin.« Abschätzig wanderte ihr Blick über Nina, die seine Bekanntschaft mit tödlichen Blicken beschoss.
»Ähm … also ich …« Tom war bemüht, etwas Abstand zwischen Katrin und sich zu bringen.
»Schon okay.« Nina griff nach ihrem Bier und glitt von dem Barhocker. »Ich wünsche euch einen guten Rutsch!« Sie prostete ihnen zu, als sie sich vorbei schob.
Kapitel 6
Ganz traditionell erklang das schnulzige Happy New Year von ABBA in den heiligen Hallen des Knaak . Alle lagen sich freudig in den Armen, taumelten jubelnd von einer Liebkosung in die nächste.
Nur Tom nicht. Er hielt nur Katrin im Arm und alle Anderen, auch die Mädels, mussten sich mit freundschaftlichen kurzen Drückern und keuschen Bussis abfinden.
Seit sie vor Nina ihr Revier markiert hatte, waren ihre Arme fest um ihn verkeilt und ihre Finger hatten sich im Stoff seines T-Shirts verwickelt. Sie duldete keinen Widerspruch – er hatte nicht den Hauch einer Chance, sich von ihr zu lösen.
»Frohes neues Jahr«, hauchte sie direkt in sein Ohr und er vernahm den dominanten Lakritzgeruch, der unterschwellig von einer süßlichen Alkoholfahne begleitet wurde. Fahrig glitten ihre
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