Echtzeit
wohl ein zu großer Zufall, wenn es noch dieselbe Gitarre wäre, mit der er sie damals vom Fahrrad gehauen hatte.
»Willst du was trinken?«
Sie wandte ihren Kopf in seine Richtung und nickte ihm über die Schulter zu. »Gern. Bier?«
Ohne sie aus den Augen zu lassen, ging er zum Kühlschrank. Sie durchsuchte seine Musiksammlung und war inzwischen an dem Plastikkorb angekommen, der am Fuß des CD-Ständers stand. Seine bevorzugte Musik sagte ihr wohl nicht gerade zu. Schließlich fand sie etwas, betätigte ungefragt den Knopf der Stereoanlage und ließ die CD-Schublade ausfahren. Er zog zwei angemessen gekühlte Flaschen Pils hervor, als plötzlich Aretha Franklin durch die erstklassigen Boxen in seiner kleinen Wohnung erklang. Verwundert hielt er kurz inne. Er wusste noch nicht einmal mehr, dass er dieses Album überhaupt noch besaß. Und seit wann hatte sie ihre Vorliebe für die Queen of Soul entdeckt? Geschickt öffnete er die Biere und durchquerte den Raum. Sie drückte suchend auf den Skip-Tasten herum, während er sich direkt hinter sie stellte.
»Hier.«
Ihre Aufmerksamkeit verließ seine Anlage – anscheinend hatte sie gefunden, was sie gesucht hatte. Dankbar nahm sie ihr Getränk entgegen und leise erklang der Song, den sie ausgewählt hatte.
»Frohes neues Jahr, Tom«, wünschte sie ihm erneut und sie stießen an.
»Es fängt zumindest gut an«, erwiderte er und führte die Flaschenöffnung an den Mund, um sich einen großzügigen Schluck zu genehmigen. Er lachte leise und unbemerkt über ihre Songauswahl Since you've been gone , wie passend. Aretha hatte recht. Ninas plötzliches Auftauchen war wie der letzte Impuls, um ihn aus seinem Wachkoma zu holen. Jetzt sah er so einiges klarer.
Eingängig betrachtete sie die Fotocollage in dem großen, randlosen Rahmen auf seiner Schrankwand. »Ich hatte kein Bild von uns. Noch nicht mal eins von dir.« Bedauern lag in ihrer Stimme. »Ich hatte immer Angst, dass ich vergesse, wie du aussiehst.«
»Und, hast du es vergessen?« Vorsichtig trat er näher an sie heran.
»Ich weiß nicht.«
Ihr Kopf senkte sich und ihre Fingerspitzen reckten sich nach seiner Hand. Er kam ihr entgegen, streifte zärtlich über ihren Handrücken und seine Finger verspielten sich liebevoll mit ihren.
»Deine Augen habe ich nie vergessen«, flüsterte sie und sah zu ihm auf.
Das Blau ihrer Iris schimmerte genauso wie damals. Wie der Himmel, der sich nach einem Sommergewitter wieder auftat. Ihre Schminke war ein wenig verschmiert aber das unterstrich ihren Augenaufschlag nur noch mehr.
»Ich deine auch nicht«, flüsterte er und glitt mit seinem Daumen über ihre Narbe. Alle seine Gefühle von damals kehrten zurück und sie schienen noch intensiver zu sein.
Sie löste seinen Blick. »Das ist schon verrückt, oder? Nach so vielen Jahren.« Ein verträumtes Lächeln umspielte ihre Lippen.
»Ja, das ist es wirklich.« Kaum merklich strich er mit der Nase über ihr Haar und genoss ihren Duft. Er verschränkte seine Finger nun endgültig mit ihren, streckte den anderen Arm an ihr vorbei und stellte sein Bier auf dem Schrank ab. Jetzt konnte er sie endlich ganz in die Arme schließen. Doch er blieb vorsichtig – zu unwirklich kam ihm die ganze Situation noch vor – und so legte er sanft seine Hand auf ihren Bauch. Ihre Flasche gesellte sich zu seiner und sie drückte sich stärker an ihn.
»Es gab nie wieder jemandem, dem ich mich so nah gefühlt habe wie dir, Tom.«
»Gott, Nina«, seufzte er und senkte sein Gesicht bis an ihre Halsbeuge. Sie sprach ihm so sehr aus der Seele, dass ihn die verlorenen Jahre aufs Neue quälten. Die Erinnerung an den Moment, in dem ihre Hand aus seiner glitt, raubte ihm vor Schmerz den Atem. Einzig ihre Anwesenheit im Hier und Jetzt versprach Heilung.
»Ein Teil von mir will nicht mehr von dir weg.« Sie drehte sie sich in seinen Armen, strich über seinen Bart und glitt an einer dicken Haarsträhne hinunter bis zu seiner Brust.
»Ich werde dich einfach nicht mehr gehen lassen«, versprach er heiser.
Sie seufzte wehmütig und wollte etwas sagen, doch er verschloss ihren Mund mit seinem. Er wollte nicht mehr reden, nicht mehr an die Zeit ohne sie erinnert werden. Jetzt endlich musste er sie wieder spüren. Mit allem, was dazugehörte.
Eine Ewigkeit lang standen sie da, ließen ihre Zungen miteinander tanzen. Tief und liebevoll waren ihre Küsse, doch von Minute zu Minute steigerte sich die Intensität und ihre Atemzüge beschleunigten sich.
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