Echtzeit
Leben.« Wütend sprang er auf. »Bin ich ein Niemand?«
»Nein, Tom ... lass mich bitte ...« Sie hatte keine Ahnung, wie sie ihm entgegentreten sollte.
»Bin ich nicht gut genug für dich?« Er durchquerte das Zimmer und nahm seine Jacke.
»Tom bitte bleib. Ich muss mit dir reden.« Vorsichtig näherte sie sich ihm, während er den Reißverschluss hochzog.
»Es gibt nichts mehr zu reden, Nina! Du hast mich verleugnet. Mich gibt es nicht.« Er griff nach seiner bereits gepackten Reisetasche und hob sie an. Für einen kurzen Moment hielt er inne und sah sie an, als wolle er nicht gehen.
»Bitte, Tom … Ich liebe dich.«
Er schloss die Augen und schüttelte den Kopf. »Dafür ist es jetzt zu spät.« Damit schob er sich an ihr vorbei.
Nina zuckte, als die Tür zuknallte und gleich darauf ließ sie ihren Tränen freien Lauf. Es hatte keinen Sinn, ihm ihre Vermutung mitzuteilen. Sie wollte nicht, dass er nur deswegen blieb. So etwas sollte man nicht als Druckmittel missbrauchen. Mit zitternden Händen nahm sie die Tüte und leerte den Inhalt in ihre Handfläche. Ein rechteckiger Karton mit einer kurzen Anleitung, die sie selbst in ihrem desolaten Zustand verstand. Schwanger oder nicht schwanger. Es war ganz einfach.
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Kapitel 19
19. Oktober 2011, Berlin
»Paaapaaaaa!«, dröhnte Pauls Kinderstimme durch Toms Altbauwohnung. »Mama will wissen, wann du mich nach Hause bringst.«
Tom schloss kurz die Augen und nahm die Hände aus dem Spülwasser. Während er in den Flur trat und auf seinen inzwischen schulpflichtigen Sohn zuging, trocknete er sich die Hände am Geschirrtuch.
»Gib mal her«, sagte er und verlangte Pauls Handy. Katrin hielt es schon lange nicht mehr für nötig, ihn direkt anzurufen. Seit Paul sein eigenes Telefon hatte, sprachen sie nur hin und wieder miteinander.
»Hi«, brummte Tom in den Hörer und wurde gleich in einem Schwall Worte ertränkt. Katrin schaffte es innerhalb von Sekunden, einem so viele Vorwürfe zu machen, dass man sich am liebsten depressiv aus dem Fenster stürzen wollte.
»Ich hab dir gesagt, dass ich nicht will, dass du ihn mit in euer ach so professionelles Studio nimmst«, krakeelte es durch den Hörer, wobei sie das ›ach so professionelles‹ nochmal besonders mit ihrem Kreischton untermalte.
»Ja, das weiß ich. Hast du oft genug gesagt und ich werde dasselbe antworten wie immer: Ihm wird dort nichts passieren.«
»Nichts passieren?!«
Tom verdrehte die Augen. Sein Sohn, eine haargenaue Miniausgabe von ihm selbst, zuckte mit den Schultern und setzte sich wieder im Wohnzimmer auf den Boden zu seinen Legosteinen.
»Katrin, ich ...«
»Ist mir egal. Du bringst ihn her, wenn du heute Abend noch zu deinen Kumpels willst.«
Es knackte und dann trat ein kurzer Moment wohltuender Stille ein, bevor das Tuten das Ende der Verbindung signalisierte.
Er seufzte und legte das Handy auf dem Schrank neben der Wohnzimmertür ab.
»Mama hat's wieder verboten«, stellte Paul fest und steckte zwei Legosteine gekonnt zu einer Häuserecke zusammen.
»Sieht so aus, Kumpel.« Er ließ sich neben seinem Sohn auf dem Teppich nieder. »Tut mir leid.«
Der kleine Mann zuckte nur mit den Schultern und beachtete seinen Vater nicht weiter. Er blieb tapfer, aber selbst Tom nervte es, dass er Katrins Willen immer noch Folge leisten musste, weil sonst nicht nur er, sondern auch Paul ihren Schimpftiraden hilflos ausgeliefert war.
Mit dem Finger strich Nina die Konturen des Brandenburger Tors nach. Es stand auf dem Kopf und war Teil eines ganzen Mosaiks Brandenburger Tore. Die Verkehrsbetriebe waren wirklich sehr kreativ und hatten die Scheiben ihrer U-Bahnen mit diesem Muster verziert, damit die Touristen nicht die dunklen Wände des Berliner Untergrunds anstarren mussten.
Sie war wieder zurück. Zurück in Berlin, aber anders als erhofft, fühlte es sich nicht gut an. Sie war hier gestrandet, war Lolli von London hierher gefolgt. Er war der Einzige, der noch an ihrem Leben teilhatte. Alle anderen waren zu sehr mit sich beschäftigt oder belächelten sie einfach nur.
Die Bahn hielt, die Türen öffneten sich. Einige stiegen aus, Andere stiegen ein. Auf den freien Platz schräg gegenüber von ihr, setzte sich ein gutaussehender Mann etwa Mitte dreißig. Er entsprach absolut ihrem Beuteschema. Braune Augen, schulterlanges, gewelltes Haar und ein Lächeln, das jede hier anwesende Frau zum Schmelzen bringen konnte, nur sie nicht. Ihre Gedanken kreisten seit zwei Jahren nur
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