Echtzeit
noch um den Einen, den sie mit ihrer selbstgerechten Art verjagt hatte.
Der Mann knöpfte seinen Mantel auf und beugte sich vor. Sein Blick lag auf ihrem Gesicht. Er strich sich die Haare hinter das Ohr und öffnete seinen Mund, als wollte er etwas sagen. Rasch wandte sie den Kopf ab und starrte auf das Mosaik. Ihr Körper stand unter Spannung – die Schultern hatte sie so weit hochgezogen, dass sie schmerzten. Erst, als sie sicher war, dass der Typ von ihr abließ, erlaubte sie sich, die Luft aus ihren Lungen zu lassen. Sie linste aus dem Augenwinkel heraus zu ihm. Er sah sie noch immer an. Nina wühlte in ihrer Manteltasche nach ihrem iPod, stopfte sich die Hörer ins Ohr und stellte die Musik so laut, dass sie alle Geräusche und Stimmen in der U-Bahn ausblenden konnte. Dann schloss sie ihre Augen, um sich ganz der Musik zu widmen.
Doch sie reagierte nicht auf die Klänge in ihren Ohren. Weder berührte sie der Song, noch stimmte er sie fröhlich. Sie wusste noch nicht einmal, was für einen Song sie hörte. Sie nahm nur den Rhythmus wahr, den Einsatz der verschiedenen Instrumente. In ihrem Kopf zerlegte sie das Musikstück in alle technischen Einzelheiten, prüfte es auf Korrektheit und fügte die Teile wieder zusammen. Das tat sie immer. Immer seit ...
Die U-Bahn fuhr in den Bahnhof ein. Rasch schlüpfte Nina an den anderen Menschen vorbei und schob sich zur Tür hinaus. Sie war bemüht, jede Berührung zu vermeiden und sie machte sich so klein, es nur ging. Auf dem Weg zu den Treppen lief eine Frau mit einem Kinderwagen vor ihr her. Nina wollte sie überholen, um vor ihr oben zu sein. Da packte die Frau sie am Arm. Erschrocken wirbelte Nina herum. Sie sah, wie sich die Lippen der Frau bewegten, doch ihre Ohren wurden noch immer von Green Days Do you know your enemy beschallt. Die Frau deutete lächelnd auf Ninas Kopfhörer und wieder bewegten sich ihre Lippen. Nina schluckte nur und sah hinunter in den Kinderwagen. Das kleine Mädchen hatte große, runde Augen in einem strahlenden Blau. Das Kleinkind nuckelte genüsslich an einem Butterkeks, während es Nina interessiert betrachtete.
Ninas Brust zog sich zusammen. Sie bekam kaum Luft und wusste nur, dass sie so schnell wie möglich hier verschwinden musste. Sie ignorierte die weiteren Gesten der jungen Mutter, umklammerte ihre Tasche und rannte die Treppen hoch. Keuchend nahm sie zwei Stufen auf einmal, und als sie die ersten Regentropfen auf ihrem Gesicht spürte, kehrte die Erleichterung ein. Ihre Flucht war geglückt.
Sie zog die Schultern hoch und stülpte sich die Kapuze über den Kopf. Mit den Händen in den Jackentaschen lief sie die Straße entlang. Vorbei an dem Kiosk, dem Bäcker und dem türkischen Gemüseladen. Manchmal machte sie hier halt, um sich ein paar Kräuter und Tomaten für eine leckere Sauce zu kaufen, doch dieses Mal lief sie nur stur daran vorbei.
Sie bog in die dunkle Einfahrt direkt hinter dem Gemüsehändler ein. Neben den Mülltonnen stand mal wieder allerhand Sperrmüll. Vom alten Fernseher bis hin zum klapprigen Wäscheständer. Sie beachtete es kaum noch, es war ihr egal. In der Mitte des Innenhofes gab es einen trostlosen Spielplatz, der nicht nur an Regentagen wie heute verlassen war. Sie umrundete den Sandkasten und lief über die grauen Betonplatten, die direkt zu einem der Hauseingänge führten. Mit klammen Fingern wühlte sie in den Tiefen ihrer großen Tasche und verfluchte mehrmals das Gewicht des Laptops, den sie mit sich trug. Endlich spürte sie das Band in ihrer Hand und mit einem kräftigen Ruck zog sie den Schlüsselbund hervor. Ein Päckchen Taschentücher wurde mit in die Freiheit gerissen und fiel in eine Pfütze. Wie alles andere auch ignorierte sie es. Sie schloss die Türe auf und machte sich in dem muffigen Hausflur auf den Weg nach oben in den vierten Stock.
Während sie die Wohnungstüre öffnete, streifte sie ihre Doc Martens von den Füßen und ließ sie achtlos auf der Fußmatte stehen. Die Wohnung war dunkel, ein sicheres Zeichen, dass Lolli nicht zu Hause war. Sie schaltete das Licht an, hing ihren Schlüssel auf und stellte die Tasche neben der kleinen Kommode ab. Das Licht des Anrufbeantworters blinkte. Eine jämmerliche Nachricht, und die war mit Sicherheit für Lolli. Nina hatte schon lange niemand mehr angerufen. Trotzdem drückte sie den Abspielknopf. Manchmal war ihre Neugierde einfach zu groß und ihr bester Freund nahm es ihr sowieso nicht übel.
»Huhu, Nina!« Es war Lollis Stimme
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