Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Echtzeit

Titel: Echtzeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel Barylli
Vom Netzwerk:
E-Mails schreiben. Wenn man sich schon nicht sehen kann.
    »Mein Gott, was hat diese Frau für eine schöne Stimme!« Das war mein erster Gedanke, als wir uns gesehen haben. Damals, zum ersten Mal. Im Café »Glockenspiel«.
    Ja, das passt zu ihr, habe ich mir gedacht. Eine Frau im Café »Glockenspiel« mit einer Stimme, rein und hell und klar wie eine silberne Glocke. Glöckchen. Ein silbernes Glöckchen. Engelsklar. Wie die Stimme eines Engels. Wirklich, Isabell. Wer dich nicht kennt und wer dich zum ersten Mal erlebt, der könnte echt meinen, du wärest ein Engel. Auf den ersten Blick. Du hast mich regelrecht verzaubert damals. Wie du so still und entrückt dagesessen bist. Mit deinem Ägyptenbuch auf den Knien. Vorne auf dem Umschlag waren die Widderstatuen vor den Tempelanlagen in Karnak abgebildet. Und ein Ägypter. Mit weißem bodenlangem Kaftan. Warum in solchen Bildern immer ein Mann mit bodenlangem Kaftan herumsteht?!
    Was meinst du?! Hm? Vielleicht, damit man einen Größenvergleich hat. Sonst sehe ich keinen Sinn in der Sache. Die stehen auch nur so völlig ausdruckslos in der Gegend rum. Völlig ausdruckslos stehen sie neben jahrtausendealten Großartigkeiten und schauen in die Kamera. Mit leerem Blick. Ich meine das jetzt in keinster Weise männerfeindlich. Oder kaftanfeindlich. Ich bin mir sicher, dass ein Passant in Wuppertal genauso ausdruckslos in die Kamera schauen würde. Für den Fall, dass man ihn neben irgendeinen alten Stein stellen sollte. Zum Größenvergleich. Na gut. Aber trotz dieses Titelbildes und seiner Ausdruckslosigkeit hast du eine Stimme wie ein Engel gehabt. Als du gesagt hast: »Ja bitte, setzen Sie sich!«
    Nachdem ich gefragt habe: »Verzeihung, ist bei Ihnen noch ein Platz frei?« Ja, das waren unsere ersten Sätze auf diesem Planeten, in dieser Reinkarnation.
    Du weißt ja, dass ich wirklich an die Wiederbegegnungen glaube. Daran glaube ich. Felsenfest. Es gibt ein Programm für die Seele und das lässt sich nicht in einem einmaligen Waschgang erledigen. Und auch die Menschen, denen wir begegnen, können wir nicht in einem Durchlauf auf Erden erledigen. Ich meine das Programm. Das Lernprogramm. Jeder Mensch, dem wir begegnen, stellt eine Lernaufgabe für uns dar. Und wenn es der unfreundliche Tankwart ist. Die Aufgabe ist es, nicht zurückzubellen, wenn er uns übellaunig ankläfft, sondern uns bewusst zu machen, dass da eine Seele nach Hilfe ruft. Nach Hilfe. Liebe und Verständnis. Wenn wir das Wechselgeld nicht passend haben. Es ist ja nicht das Wechselgeld, weswegen uns der arme Kerl ankläfft. Es ist sein verirrtes Leben. Die launische Frau, die er zu Hause hat und die schon seit elf Jahren keinen Sex mehr mit ihm haben will. Die steigenden Benzinpreise, von denen er aber bei seinem Gehalt nichts merkt, und die Tatsache, dass er lieber Skilehrer in Kitzbühel geworden wäre.
    Skilehrer in Kitzbühel. Die mit den roten Anoraks. »Der rote Blitz von Kitz!« Einer von denen wäre er gerne geworden. Nachdem er als Siebzehnjähriger einmal mit seiner Schule dorthin zum Skifahren gezogen ist. Dort hat er dann erlebt, wie sich diese roten Teufel mit ihren Schülerinnen aus aller Welt die Hänge hinunterwerfen. Mit den Schwarzhaarigen, Rothaarigen und auch blonden Mädchen aus aller Welt. Und am Abend kehren sie dann bei einem starken Glühwein in ein Landhotel ein. Der Kamin brennt in der Halle. Ich meine natürlich das Holz. Das Holz im Kamin brennt in der Halle. Im offenen Kamin. Und nach dem dritten Glühwein werden sie dann aufs Zimmer mitgenommen. Die roten Blitze. Jeden Abend. Woche für Woche. Solange eben Schnee liegt. Dort oben in den Bergen. Wo der Klimawandel noch nicht so total zugeschlagen hat. Ja, das wollte er auch in seinem Leben.
    Anstatt dessen ist er zurückgefahren und hat seine Lehre abgebrochen und ist letztendlich in dieser Tankstelle an der Autobahnabfahrt gelandet. Mit einer übergewichtigen Frau zu Hause. Die seit elf Jahren nicht mehr ins Bett geht mit ihm. Und da soll der arme Mann nicht ungehalten sein. Und ein wenig kläffen? Weil das Wechselgeld wieder mal nicht passt. Seine Seele hat sich eben diesen Leidensweg ausgesucht.
    Um zu lernen. Das darf man nie vergessen. Wenn man einem gereizten Mann gegenübersteht. Oder einer gereizten Frau. Auch das Weib hat ja eine Seele. Behaupte ich. Im Gegensatz zu Thomas von Aquin. Aber wer weiß, welches Leid der arme Mönch zu ertragen hatte, um zu diesem verzweifelten Spruch zu gelangen: Dass das Weib keine

Weitere Kostenlose Bücher