Echtzeit
Seelenmüll hineindrücken können. Und ihren Gedankenmüll. Wenn du dann nicht rechtzeitig erkennst, was da läuft, dann gelingt es ihnen, aus dir einen Mülleimer zu machen, in dem sie ihren Abfall loswerden.
Du hörst zu und hörst zu und mit einem Mal beginnst du zu merken, dass du dich verdammt schlecht fühlst. Richtig unwohl. Kraftlos. Aber der, dem du stundenlang zugehört hast, lächelt mit einem Mal, steht erleichtert auf und geht davon.
So, mein Schatz, genau das werde ich jetzt auch tun! Kleiner Scherz. Ich gehe nur duschen.
Da bin ich wieder. Ein neuer Tag, ein neues Lächeln. Weißt du noch, damals in der Dominikanischen Republik? In dem Club Robinson? Das Frühstücksbuffet. Und die fünf Animateure, die den Tag mit einem Lied eingeläutet haben? »Good morning, good morning! And all the stars a bright … good morning, good morning to you! And you, and you … and! You!!«
Wahnsinn! Die haben keine Scheu, sich zu blamieren. Nicht die geringste. Aber das Komische ist doch, dass dieses blöde Lied dir tatsächlich in den Tag hilft! Wir waren damals doch echt guter Laune. Nach dem Lied. Beim Porridge. Weißt du noch? … Wahnsinn. Na ja, gut.
Jetzt verrate ich dir ein Geheimnis. Es gibt Tage, da singe ich es immer noch. In der Früh. Meistens in der Dusche. Habe ich grad eben auch so gemacht. Darum geht’s mir besser. Nach dem Singen, meine ich. Wo waren wir stehen geblieben? Ach ja! Bei den Vampiren. Und dem Mitgefühl. Das man ihnen nicht entgegenbringen darf. Unter keinen Umständen. Aber du kennst mich ja. Ich bin ja eine, die sich noch bei einem Begräbnis fragt, ob der Sarg wohl dicht schließt und der arme Tote es wohl schön trocken hat. Unter all der Erde. Aber weißt du, man kann daran arbeiten. Ja! Man kann daran arbeiten. Ja, man kann daran arbeiten, nicht immer das Opfer zu sein. Ich habe damit jedenfalls begonnen. Kein Opfer mehr sein zu wollen. Das kannst du auch Stefan ausrichten. Sag ihm: Susanna ist auf dem besten Weg, kein Opfer mehr zu sein!
Da wird er aufhorchen. Du kannst mir ja seine Reaktion erzählen. Wenn du mich dann anrufst. Oder mir eine Mail schickst. Wie du eben möchtest.
Aber jetzt erzähle ich dir von einem meiner ersten Lernschritte! Auf dem Weg raus aus der Opferrolle.
Ich bin vor gar nicht allzu langer Zeit – es waren fünf Monate und elf Tage, um genau zu sein – wieder einmal in einen Kontakt-Chatroom gegangen. Um zu sichten, welche einsamen, unverstandenen Männerherzen auf der Suche sind nach dem großen Glück. Es war halb drei Uhr früh. Somit die beste Zeit. Wenn es nämlich einer aus unserem Kulturkreis ist und auch hier lebt und nicht nach Mumbay ausgewandert ist, dann ist halb drei die beste Uhrzeit. Das ist nämlich der Punkt in der Nacht, an dem es dich nicht mehr im Bett hält. Vor Einsamkeit. Um halb drei Uhr früh bist du noch nicht so erschöpft von der einsamen Nacht wie um halb fünf.
Um halb fünf warst du schon so oft in der Küche und hast dir heiße Milch gemacht mit Honig. Und hast dir einen Cognac in die Milch gekippt. Und hast ein Schlafmittel genommen, gegen die Stille in deinem Schlafzimmer, dass du liegen bleibst. Um halb fünf bleibst du tödlich erschöpft liegen und gibst auf. Wieder einmal. So wie in der Nacht, die hinter dir liegt. Und in der Nacht, die du vor dir hast. Um halb fünf schaust du der Wahrheit in die Augen. Die Wahrheit heißt: Ich bin allein in meiner Wohnung. Ich liege ungeliebt allein in meinem Bett. Nicht einmal in einer anderen Stadt denkt jemand an mich. Herr Jesus Christus! Erlöse mich! Das sind die Halb-fünf-Uhr-früh-Gedanken.
Die Halb-drei-Uhr-früh-Gedanken sagen noch: Okay, das ist die letzte Nacht, in der ich mich betrinke und diesen Vorgang als Einschlafhilfe tarne. Heute Nacht ist meine Nacht. Die Nacht der Nächte. Die Nacht, in der ich mein Schicksal in die Hand nehmen und meine Einsamkeit beenden werde!
Ja, so herzig redet man mit sich selbst, in solchen Zeiten der einsamen Nächte. Und man glaubt auch an sich in diesen Minuten. Man geht zum Computer, schaltet ihn ein, schaut ihm vergnügt zu, wie er alle Funktionen hochfährt und ist in einer champagnerhaften Vorfreude.
In diesen Sekunden ist man felsenfest davon überzeugt, dass genau in dieser Nacht, genau in dieser Sekunde, deine Partnerseele ins Netz geht. In das weltweite. Um zu rufen. Nach dir. Du spürst es, riechst es. Du hast das Gefühl, du kannst den anderen berühren. Weil deine Sehnsucht so groß ist. So riesengroß. Und
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