Echtzeit
Seele habe. Na gut.
Du weißt schon, worauf ich hinauswill. Leid müssen wir alle ertragen. Alle. Weil sich unsere Seele das Leben ausgesucht hat, in dem das Leid genau für ihre Lernaufgabe das passende ist. Ich habe mir dich ausgesucht. Zum Beispiel. Als beste Freundin. Kleiner Scherz. Aber du weißt, was ich meine. Es hat seinen Sinn, warum wir uns begegnet sind. Und ich Stefan. Und dann Stefan und du. Das ist nicht nur ein Zufall. Das ist eine Absicht. Dahinter steht eine Absicht. Der Seele. Die Absicht der Seele. Und nur weil wir diese Absicht nicht erkennen dürfen, sagen wir »Zufall« dazu. Oder Schicksal.
Dabei hat alles seinen Sinn. Und ein Teil des Sinnes ist es, dass wir die Tür finden. »Der Weg ins Freie führt durch die Tür, warum nimmt niemand diesen Weg«, hat Laotse gesagt. Ich hätte die Antwort für Lao. Weil’s im Zimmer dunkel ist. Finster. Zappenduster. Und weil man auf diese Weise eine lange Weile herumtappen muss. Bis man wieder vier Wände gefunden hat. Und ob das die Wand mit der Türe ist, weiß man auch nicht sofort. Also muss man sich an der Wand entlang vorwärts tasten. Und fällt mit Garantie über die Stereoanlage. Oder einen vergessenen Rollschuh. Dann irgendwann einmal, nach vielen Stürzen und Verwundungen im dunklen Raum, hält man plötzlich eine Klinke in der Hand, drückt sie runter und geht hinaus. Ins Freie.
So ist das, Lao! In den meisten Leben. In den meisten Menschenleben fällt nicht der geringste Lichtstrahl an Bewusstsein in das dunkle Zimmer. Dann aber – wenn die Tür offen ist, dann liegt es an uns, »einfach« hinauszugehen. Und die Stürze und Schmerzen hinter uns zu lassen. Das ist die Lernaufgabe jeder Seele. Hier in deinem Leben. Auf diesem Planeten. Ich weiß schon, dass Lao ein wenig anders gepolt war. Er hat natürlich gemeint, dass es schwer zu begreifen ist, wie viele Menschen es gibt, die den Ausweg aus ihrem Leiden klar und deutlich vor sich sehen. Die offene Tür. Und trotzdem nicht hinausgehen können. Oder wollen. Das darf man nicht verwechseln. Manche Menschen wollen ihre Tankstelle an der Autobahnabfahrt gar nicht wirklich verlassen. Weil sie den Benzingeruch gewohnt sind. Und weil das Gefühl der Gewohnheit ihnen ein Gefühl von Heimat gibt. Und wer will seine gewohnte Heimat schon gerne verlassen? Ohne die Garantie, dass es hinter den sieben Bergen tatsächlich das tausendmal schönere Schneewittchen gibt? Wer? Du? Isabell?Ja? …
Natürlich weiß man, dass der Benzindampf ungesund ist. Aber man ist ihn gewohnt. Die Gewohnheit hat etwas Beruhigendes. Und das ist vielen Menschen wichtiger als die Chance auf Freiheit. Die Beruhigung. Die Ruhe. Und wenn es die Ruhe eines Friedhofs ist.
Deine Seele hat zu mir gesprochen. Damals. In dem Café »Glockenspiel«. Auf dem bordeauxroten Sofa mit der etwas abgewetzten Rückenlehne. Als du mir gesagt hast, dass ich mich zu dir setzen soll. Irgendetwas in mir hat geflüstert: »Vorsicht, Vorsicht, diese Frau sieht aus wie ein Engel … Vorsicht … vielleicht ist sie einer!!« Kleiner Scherz.
Aber der Teil in meiner Seele, der gewusst hat, dass ich durch dich viel erleiden werde, um viel zu lernen – dieser Teil hat gesagt: »Los, setz dich zu ihr, schieb das Eis rein und schau dir an, welcher Film da laufen soll.«
Ein Film mit Jugendverbot ist es allemal. Findest du nicht? Egal, ich schaue ihn mir an, solange er läuft. Für mich läuft er immer noch! Das musst du wissen – auch wenn deine Tonspur im Moment stumm bleibt. Egal. Ich rede mit dir, solange es noch eine Stimme in mir gibt, die dir etwas sagen will. Und solange es noch eine Frage in mir gibt, die etwas begreifen will. Ich will begreifen, wieso alles so kommen musste, wie es gekommen ist. Unsere Seelen wissen es, Isabell. Unsere Seelen wissen alles. Aber ich möchte, dass es auch mein Kopf versteht. Eines Tages.
Wie machst du das? Mit den unbeantworteten Fragen in deinem Leben? Sind sie dir egal? Oder überhörst du sie einfach? Das geht natürlich auch. Das sieht eine Zeitlang wie eine Lösung aus. Aber es ist keine. Das kannst du mir glauben. Alles, was in uns als ungelöstes, ungehörtes Rätsel herumliegt, meldet sich eines Tages. Wenn man das Sandkorn im Schuh nicht herausschüttelt, kommt man nicht auf den Gipfel des Berges.
Eine Zeitlang kann man es ignorieren. Dieses winzige, unscheinbare Gefühl. Aber wenn man nicht reagiert, beginnt man zu bluten und scheitert. Auf halbem Weg. Das kannst du mir glauben. Ich habe mich sehr
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