Echtzeit
Bett stellen würde. Geschweige denn vor die Tür. Egal.
Genieß es, Isabell. Genieß es, dass du endlich das Leben lebst, von dem du immer geträumt hast. Ich habe auch davon geträumt. Stefan auch. Ich weiß das … aber du … du lebst jetzt diesen Traum. Wenigstens eine von uns beiden … ist doch gut so … Besser als keine … Neid kenne ich nämlich nicht … weißt du? Nein wirklich … ausgerechnet ich, die allen Grund dazu hätte … aber ich mag es nicht … dieses Gefühl, das man Neid nennt. Ich mag überhaupt keine negativen Gefühle. Sie lassen einen so »anhaften« an der dunklen Seite der Seele.
Na? Fragst du dich nicht, warum und seit wann ich das Wort »anhaften« verwende? Das hast du doch noch nie gehört! Stimmt’s?! Zumindest nicht von mir. Na gut, ich erzähl’s dir …
Das war an dem Abend, an dem ich dann endlich nach Stunden über Stock und Stein wieder bei meinen Wohntürmen angekommen war. Bei meinem verschütteten Perlenhaufen. Als ich da so vor diesen riesigen Betonschlafburgen gestanden bin, habe ich mir gedacht: Ihr seid so hässlich, ich muss euch etwas Schönes geben. Damit ich mich auf euch freuen kann, wenn ich nach Hause komme … einen schönen Namen zum Beispiel. Also habe ich sie Perlentürme genannt. »Meine schönen Perlentürme«, habe ich gemurmelt und meinen Eingang gesucht. Den Eingang zu meinem persönlichen Perlenturm. Das war, wie schon gesagt, sehr schwer, weil sie alle so verflucht ähnlich aussehen … Na ja – das tun Perlen ja auch – habe ich mir gedacht und bei C4 hat mein Wohnungsschlüssel dann mit einem Mal gepasst. Frag mich nicht, wie viele verschiedene Eingangstüren ich bis dahin ausprobiert habe.
Gut, ich stecke also den Schlüssel in C4 und enke mir … Aha! Die 4! Eine Zahl, die Struktur und Eingrenzung bedeutet. In der Zahlenmystik … du erinnerst dich? Ja … na fein! Na fein, habe ich mir auch in dieser ersten Nacht gedacht, als ich dann in meiner Wohnung gesessen bin … vor dem Fernseher. Sehr entspannt. Ich war sehr entspannt von dem Bier und dem Wodka und dem langen Fußmarsch. Das sollte man öfter machen, Isabell. Einfach losgehen. Abends. Oder – besser gesagt. Im Leben. Gar nicht so viele Fragen stellen oder auf Lösungen der eigenen Probleme warten. Einfach losgehen und zusehen, wie man dabei müde wird. Ich meine – entspannt. Das ist wie auf dem Jakobsweg. So ein Losgehen. Mit Bier und Wodka kommt man sogar noch schneller ans Ziel. Wenn das Ziel die Entspannung ist. Meinen Weg nenne ich seit diesem Abend den »Perlenweg«. Das ist doch nett – oder? Es stimmt einen doch optimistisch, wenn man keine Ahnung hat, wo die Reise hingehen soll … aber jede Station so wertvoll ist wie eine Perle.
Auch die große Verzweiflung wird so zu einem Schatz. Man muss nur die Lernaufgabe in der Verzweiflung kennen. Dann wird auch die größte Folter zu einer Streicheleinheit. Wir machen uns ja die Welt erst in unserem Kopf. Alles. Isabell. Alles entscheiden wir in unserem Kopf. Ich meine, wir entscheiden im Kopf, wie wir etwas benennen. Leid oder Glück. Letzten Endes ist es unser Denken, das uns in eine bestimmte Richtung schickt …
Ist es für Herbert Leid gewesen oder Glück, dass ich nicht nach Afrika mitgefahren bin? Hm? Letzten Endes war es ein Glück für ihn. Ein Riesenglück. Stell dir vor – all die Umstände und dann verlange ich das Ritual von ihm! Also wird der Tag gekommen sein, an dem er erkannt hat, dass seine Verzweiflung im Bahnhofscafé nur der schmerzhafte Durchbruch war zu seinem Glück. Letzten Endes. Das Dumme ist nur, dass man das Glück nicht sofort erkennen kann … im Leben … weil der Durchbruch dorthin so schmerzhaft ist. Wie jede Geburt. Was meinst du? Werden wir zwei auch wieder einmal glücklich sein? Miteinander meine ich? Du bist es ja in jeder Minute jedes Tages, denke ich mir. Oder? Vielleicht sind all diese schmerzhaften Jahre nur der Geburtsschmerz für ein ganz neues Glück, eine ganz neue Freundschaft? So möchte ich es gerne sehen. Und so wird es sein. Wenn ich die Sache mit Stefan einmal anders sehen kann … verzeihen kann, meine ich … Wenn das geschieht, dann haben wir die Chance auf »ein zweites Glück« – wir zwei – was?! Kleiner Scherz.
Ich bin also damals in meine Wohnung und habe den Fernseher eingeschaltet. Und mir ein kleines Bier geholt. Weil ich etwas erschöpft war von dem langen Fußmarsch. Und ich sitze also da und zappe mich durch die Programme und auf einmal sehe ich etwas
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