Echtzeit
unglaublich Schönes. Einen Kiesgarten in Kyoto! Kennst du den? Ich denke schon. Den kennt ja die ganze Welt.
Ein großes rechteckiges Feld. In einem Zen-Tempel. Das Feld ist angelegt mit weißem Kies und in dem Kies liegen Felsbrocken. An wunderschön ausgesuchten Stellen. Und der Kies drum herum ist mit Holzrechen geharkt. Und man sieht die Linien, die die Holzzähne des Holzrechens in den Kies gezogen haben. Sehr poetisch. Ein Sinnbild! Verstehst du? Für das Weltenmeer und die Läufe der Zeit und all das. Und ich sitze so da mit meinem »Elefanten-Bier«, dem in der goldenen Dose, und die Kamera schwenkt so langsam über den Kies und auf einmal kommt ein Mönch ins Bild. Mit Glatze. In schwarzem Umhang. Und der sitzt so da. Im Schneidersitz … und blickt so vor sich hin. Völlig weggetreten … genauso wie ich …
Also der Mönch sitzt da und hat die Augen so verschlafen halb geöffnet und blickt regungslos vor sich hin auf den Kies … und ich sitze genauso dösend da und blicke auf den Kies. Da hatte ich die Erleuchtung! »Der Erleuchtung ist es ja egal, wie man sie erlangt« – hast du dieses Buch gelesen? Solltest du, das könnte dir viele Fragen beantworten … die du ja wahrscheinlich gar nicht hast. Kleiner Scherz.
Ich hatte die Erleuchtung, die mir gesagt hat … Aus! Genug! Lass es! Vergiss den ganzen Kram und setz dich mal hin und lass mal fünf gerade sein! Das genau ist es, was Buddha uns sagen will. Das und nichts anderes. Vielleicht kennst du solche Augenblicke. Da bist du einfach im Flow. Du hängst in deinem Stuhl, leicht zugedröhnt … und mit einem Mal kapierst du die komplette Menage einer Weltreligion! Also mir ging’s damals so … in meinem Stuhl … vor dem Fernseher … Ich war ganz aufgeregt. Obwohl ich völlig relaxt war. So wie der Mönch im Fernseher. Mit Glatze. Ich war so aufgeregt, weil ich so entspannt war und alles begriffen hatte. Mit einem Mal. Also damals.
»Still sitzen, nichts tun, der Frühling kommt und das Gras wächst ganz allein …« Was für ein Gedicht. Echt! Das ist ein Gedicht. Von Basho, dem berühmtesten japanischen Zen-Dichter. Das weiß ich so genau, weil ich mir am nächsten Tag ein Buch gekauft habe. In der Stadt. Über Buddhismus. Und da stand eben auch dieses Gedicht drin. Gleich am Anfang. Wie eine Warnung! Achtung! In der Art geht es gleich weiter. Wem das zu viel oder zu wenig ist, der kann jetzt noch aussteigen! Ich hab mir gedacht, das ist genau das, was ich suche und habe mich in unser Lieblingscafé gesetzt. Beim Rathaus … auf das Sofa, auf dem du damals gesessen bist. Mit deinem Ägyptenbuch auf den Knien.
Das Leben wiederholt sich, hab ich mir gedacht, als ich so da gesessen habe. Vielleicht kommt ja jetzt ein nettes Mädchen vorbei und fragt mich, ob hier noch ein Platz frei ist …
Also gut. Gehen wir einen Schritt weiter, Isabell. Heute. Hier. Jetzt! Hören wir auf mit den Lügen! Ja? Also ich möchte aufhören mit dem Lügen, denke ich mir gerade … Ich warte schon länger hier im Perlenturm, länger als ich dir heute früh geschrieben habe. In der Zeit, in der du noch geträumt hast.
Ich habe keine Lust mehr zu lügen. Ich lebe schon viel länger hier und hatte nur keine Lust, es dich schon früher wissen zu lassen. Keinen Mut. So lautet der wahre Satz. Ich hatte keinen Mut, es dich früher wissen zu lassen. Dass ich meine schöne, teure Innenstadtwohnung nicht mehr habe. Weil sie zu teuer wurde. An dem Tag, an dem ich meinen Job verloren habe. Nachdem ich zu lange zu viele Fehler gemacht habe. In meinem Job. Nachdem ich meinen Nervenzusammenbruch nicht wirklich unter Kontrolle bekommen habe. Meinen Nervenzusammenbruch, den ich hatte, nachdem du mit Stefan abgehauen bist. Nachdem du mir Stefan ausgespannt hast. Nachdem ich die drei glücklichsten Monate meines Lebens verbracht hatte. Mit dem Mann, den ich so sehr geliebt hatte wie keinen je zuvor … nach dem ich so verrückt war und ihn dir vorgestellt habe. Ein Monat nachdem ich ihn kennen gelernt habe. Ein Monat nachdem ich geglaubt habe, mein Leben hat endlich den Sinn gefunden, den ich in ihm gesucht habe, seit ich denken und fühlen kann!
Warum, Isabell!!? Warum? Warum hast du mir meinen Mann weggenommen?! Warum hast du mir gezeigt, was ich ohnehin weiß, seit ich geboren bin, dass ich nichts wert bin. Nichts! Warum hast du mir gezeigt, dass ich nur kurzzeitig und nur so lange etwas wert sein darf, bis etwas Wertvolleres daherkommt? Und mich auf die Plätze verweist. Bis du
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