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Echtzeit

Titel: Echtzeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel Barylli
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Enkelkindern erzählen könnte. Die mir meine adoptierten Kinder schenken werden. Eines Tages. Kleiner Scherz.
    Nachdem er mir lang und breit die vor allem hygienischen Vorteile dieser Spezialklinik geschildert hatte, in der das Ritual an mir vollzogen würde, habe ich ihm in die blauen Augen geblickt, genickt und gefragt, ob er denn dort ein Doppelzimmer gebucht hätte? Einen langen Moment war es still geblieben im Bahnhofscafé, dann fragte er charmant lächelnd: »Wofür denn?«
    »Um das Ritual auch an dir vollziehen zu können!«, antwortete ich. »Da hätten wir gewissermaßen eine Vorhochzeitsnacht im gemeinsamen Zimmer.«
    »Ich verstehe noch immer nicht, worauf du hinauswillst«, sagte er immer noch lächelnd.
    »Ich gehe davon aus, dass du dir auch alles entfernen lässt. Da unten. Ich meine deinen Schwanz und deine Eier«, erklärte ich. Das sei doch wohl klar und völlig im Einklang mit seiner Sehnsucht, ein begierdefreies Leben in ewiger Treue zu verbringen. Die Quelle der Lust gälte es zu beseitigen, da gab ich ihm völlig recht. Aber bei Mann und Frau in gleichen Maßen. Andernfalls würde ich ein Leben in ständiger Sorge verbringen. Wenn er unterwegs war. Zu seinen Kongressen. In Kapstadt. Nein? …
    Herbert hat mich fast zwei Minuten lang angesehen. Schweigend. Und du weißt, wie lange zwei Minuten sein können, Isabell. Wenn beide schweigen. Dann hat er ganz ruhig seine Reiseprospekte eingesammelt und sorgfältig in die Klarsichthüllen zurückgeschoben. Die Klarsichthüllen in die Ringmappenordner geklemmt und all die schönen Hoffnungen wieder in seine cognacfarbene Arzttasche gelegt. Parallel. Ganz ordentlich.
    Kurz ist er dann noch sitzen geblieben und hat auf den Himbeerkuchenrest geblickt. Still und sehr einsam. Dann ist er aufgestanden und langsam weggegangen. Durch die Menschenmenge, die vor dem Bahnhofscafé zu ihren Zügen gedrängt haben. Ich habe ihm noch nachgeschaut. Sehr aufrecht und still war seine Erscheinung in der Menge, innerhalb all dieser wahnsinnig gehetzten Menschen. Sein blondes Haar war noch lange zu erkennen. Bis er die riesige, überdachte Bahnhofshalle verlassen hatte. Richtung Parkplatz. Ich hätte zu gerne gewusst, ob er mit dem Bugatti gekommen war. Oder doch mit dem Familienwagen. Dem Mercedes.
    Ich weiß, dass ich diesem guten Mann einmal mehr das Herz gebrochen habe. Einmal mehr hat er erleben müssen, dass er nicht geliebt wird. Er. So wie er ist. Mit seinem Glauben, seinen Überzeugungen. Seinem Anspruch an ein deutlich gelebtes Leben. Einmal mehr würde er alleine auf dem Sofa sitzen und schwer atmend sein Käsebrot essen. Ich weiß, wie er sich fühlte. Mir geht es ganz genauso. Jeden Abend. Mit dem Unterschied, dass ich keinen offenen Kamin habe.
    Das, Isabell, das ist in Wahrheit die Botschaft in dieser kleinen Geschichte. Die Botschaft lautet: Wir wollen so gerne für das geliebt werden, was wir sind. Und wir werden es nicht. Wir erleben Phasen einer Annäherung, die getragen werden von Vermutungen. Und in dem Moment, in dem wir konkret werden, in dem Moment, in dem wir unser wahres Gesicht zeigen, werden wir verlassen. Du weißt, wovon ich rede. Wen wundert es da, dass die meisten genau diesen Schritt irgendwann einmal nicht mehr wagen. Die Maske muss perfekt bleiben. Die Maske soll das ausdrücken, von dem wir glauben, dass es all die anderen Masken attraktiver finden. Easy going living … easy going – Freizeitgestaltung … easy going – Sport, Sex … und alles, nur keine wirkliche Nähe … dafür Bungeejumping am Samstagnachmittag. Im Freizeitpark. Gleich neben dem Aquapark. Gleich neben dem Einkaufszentrum. Gleich neben der Tankstelle. Gleich neben der Autobahnabfahrt. So beginnen die meisten von uns zu leben. Ab einem gewissen Schmerzpegel.
    An irgendeinem Tag ist der Punkt erreicht, an dem man nicht mehr weggeschickt werden möchte. Nur weil man gezeigt hat, wer man wirklich ist. An irgendeinem Tag hat man von der Bestrafung mit Einsamkeit genug. Nur weil man sich erlaubt hat, ganz man selbst zu sein. An irgendeinem Tag blickt man ein letztes Mal in den Spiegel und verabschiedet sich von der Welt. Besser gesagt: Man beschließt, sich nicht mehr preiszugeben. Man kann sich ja nicht selbst verbieten. Aber man kann perfekt werden. Im Verlangen. Man kann perfekt werden im Einrichten einer weiteren, verborgenen Existenz. Das wahre Selbst. Das wahre Selbst legt man in einen schwarzen Sarg im Keller. Und nur in der Nacht, wenn der Mond scheint,

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