Echtzeit
lässt man es frei. In der Phantasie. Vielleicht in einigen abartigen Aktionen. Schnell, heimlich und verschämt. Aber ansonsten hat das wahre Selbst keine Chance mehr auf die Suche zu gehen. Nach einer Antwort. Nach einer Begegnung.
Ich kann Herbert sehr gut verstehen. Vielleicht sollte er sein Suchraster verändern. Vielleicht sollte er auf afrikanische Webseiten gehen? Oder dort hinreisen und sich umsehen. Vielleicht liegt es nur daran, dass er ein Koalabär ist unter lauter Braunbären. Die Wahrheit ist: Es geht nur darum, das Deckelchen für sein Töpfchen zu finden. Und es wäre ein Zeichen von Intelligenz, im richtigen Reservat zu jagen. Nicht wahr?! Oft sind unsere Einsamkeitsschmerzen nur damit zu erklären, dass wir schlicht und einfach am falschen Ort unterwegs sind. In einem Fußballstadion werde ich mit einem Gedicht von Rilke wenig Beifall finden! Heißt das jetzt, das Fußball schlecht ist? Im Gegenteil.
Es heißt nichts anderes, als dass das ganze Leben letzten Endes nur eine nicht endende Aufforderung ist, die richtigen Signale am richtigen Ort auszusenden. Das ist meiner Meinung nach der einzige Weg raus aus der Vereinsamungsfalle. Findest du nicht?!
Ich weiß nicht, was du jetzt denkst, aber wenn du denkst, dass die Sache mit Herbert ein absoluter, extremer Einzelfall ist – dann muss ich dich enttäuschen. Isabell. Jetzt, wo ich es dir in so vielen Einzelheiten hingestellt habe, mag es sehr verrückt wirken. Das ist es aber nicht. Du hast ja keine Ahnung. Oder besser gesagt: Gott sei Dank. Das erstaunliche an der Situation war nur, dass Herbert erst im Café die Karten auf den Tisch gelegt hat. Er hat sozusagen die Maske der Normalität als Köder ausgelegt. Wahrscheinlich hat er das aufgrund von Erfahrung gemacht. Wahrscheinlich hat Herbert schon viel früher, mit viel größerer Offenheit, noch schneller eine Abfuhr erlebt. Wahrscheinlich hat ihm seine Intelligenz zugeflüstert, dass er in ersten Linie als der vermögende Röntgenologe auftreten und dann – wenn angebissen wurde – erst die Fakten offen legen soll. Und – ehrlich gesagt – ich kann mir vorstellen, dass er eines Tages doch eine findet. Zwanzig Jahre älter als ich. Zwei Mal geschieden. Sozialhilfeempfängerin – Alkoholikerin. Da gibt’s schon ganz andere Argumente, die für Herbert sprechen. Er muss dazu nur dran bleiben. Nicht vorschnell resignieren. Nicht wahr?! Isabell!! So wie ich. Ich habe auch noch nicht resigniert … darum gehe ich jetzt auch schnell spazieren … Bis gleich … Mein Schatz … wenn du magst, kannst du ja antworten … in der Zwischenzeit.
So! Vom schnellen Spaziergang zurück! Und natürlich keine Antwort von der besten Freundin! Das wäre ja gegen die Gewohnheit gewesen – nicht wahr? Du willst einfach, dass ich mich daran gewöhne, dass du nicht antwortest – und ich will, dass du dich daran gewöhnst, dass ich mir einfach weiter wünsche – wieder von dir zu hören … Tja … zwei Herzen auf entgegengesetzten Wegen! Kann das gut gehen? Bleiben Sie dran! Auch nach der Werbeeinschaltung!
Oder bist du etwa laufen? Gerade jetzt? Das wäre natürlich keine Entschuldigung, aber eine Erklärung! Nicht wahr? Bist du immer noch am Laufen? So wie früher? Jeden Tag? Eine dreiviertel Stunde? Bei der tollen Figur, die du hast, kann ich mir vorstellen, dass du die behalten willst. Bis ins hohe Alter! Nicht wahr? Und – so jung sind wir ja alle nicht mehr. Und da beginnen die körperlichen Reize zu verfallen, wenn man nicht gegensteuert! Also ich bin vom Laufen abgekommen! Stattdessen gehe ich schnell. Ja. Das mache ich. Mit vollem Armeinsatz. Das ist gut für die Bauch- und Schulterpartie. Ich weiß, es sieht voll bescheuert aus, aber das gilt auch für Arnold Schwarzenegger, wenn er Gewichte pumpt. Das Resultat zählt! Sonst nichts. Wie immer im Leben. Ich bin vom Laufen weg und zum Gehen gekommen, weil ich gelesen habe, dass das schnelle Gehen die Wirbelsäule nicht so belastet. Klingt einleuchtend. Beim Laufen schlägt jeder Schritt wie ein kleiner Dampfhammer auf die Bandscheiben. Beim Gehen ist das abgefedert. Wichtig ist nur, dass man dieselbe Puls- und Atemfrequenz erreicht. Beim Gehen. Wie beim Laufen. Damit das gewährleistet ist, binde ich mir diesen Herzrhythmuszähler um. Um die Brust. Und die Meldeuhr an das Handgelenk. Die piept, wenn ich meine gewünschte und vorher eingestellte Pulsfrequenz erreicht habe. Das ist echt toll. Ja, und dann verlasse ich schnellen Schrittes mein Haus.
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