Ed King
dem Spielplatz. Eddie besaß eine gute Koordination und konnte einen Tennisball von der Grundlinie übers Netz werfen, wohingegen Simey im Flugzeug nach Kalifornien stets Ohrenschmerzen bekam und ihm vom Autofahren schlecht wurde. Mit vier Jahren sprang Eddie vom Ein-Meter-Brett. Sein Babyspeckwar verschwunden, und ihn entschlossen durch die Luft fliegen zu sehen, sonnengebräunt, die Arme ausgestreckt, mit nassen, glänzenden Muskeln, machte Dan und Alice schwindlig vor Stolz. Dieses furchtlose, bezaubernde, intelligente und äußerst hübsch anzuschauende Kind war eine anhaltende Quelle des Wohlgefühls, ein erhörtes Gebet, ein Gottesgeschenk – genau wie Simey, ihr leibliches Kind.
Sie ließen von Eddie und Simey oder Simey und Eddie bei einem professionellen Fotografen Porträtfotos machen, Eddie in Krawatte und Strickweste und mit Simey auf dem Schoß, dann Eddie und Simey unter einem Kirschbaum im Garten, dann Eddie und Simey mit Bauklötzen. Das gelungenste Bild zeigte Eddie und Simey auf dem Boden im Wohnzimmer, Wange an Wange in die Kamera lachend. »So ein hübscher großer Bruder«, sagte Alice, während der Fotograf mit seiner Kamera auf einem Stativ fleißig knipste. »Mein großer, braver Junge, mein Liebling Eddie.«
»Bäh«, antwortete Eddie. »Simey stinkt.«
Sie schickten die Fotos gerahmt und fertig zum Aufhängen nach San Jose und Pasadena. Pop rief sonntagabends an, weil das Ferngespräch dann billiger war; das Bild hänge bereits an der Wand, verkündete er und fügte hinzu, er habe im Eisenwarenladen nach einem Haken gefragt und gleich eine ganze Packung mit fünf Stück kaufen müssen, von denen jetzt vier in der Schublade mit den Schraubenziehern und Zangen lägen. »Aber das ist nicht das Wichtigste«, sagte er. »Das Wichtigste ist, es ist ein sehr hübsches Bild, nur sehen sich die beiden kaum ähnlich.«
»Geschwister müssen sich nicht ähnlich sehen«, sagte Alice.
»Was soll’s?«, ergänzte Dan.
»Vielleicht fragen sie eines Tages nach«, sagte Pop. »›Wieso ist er so groß und ich nicht, und wieso hat er eine ganz andere Nase und andere Haare?‹ Was sagt ihr den beiden dann? Nun, Dr. Dan? Ich warte! Der eine schlägt Home Runs von der linken Seite des Schlagmals, der andere ist ein kleiner Einstein in der Schule; der eine ist kerngesund, der andere hat chronisches Asthma; der eine dies, der andere das, einer oben, einer unten, einer ja, einer nein – was sagst du dazu, Mr Neunmalklug?«
»Wir halten uns an die Geheimnisse der Genetik«, antwortete Dan. »Nichts einfacher als das, Pop.«
»Einfach?«, sagte Pop. »Was ist daran einfach? Eines Tages kommt er dahinter.«
»Wir halten uns an die Geheimnisse der Genetik«, wiederholte Dan. »Solange niemand es ausplaudert oder ihm Flöhe ins Ohr setzt, ist er unser Kind. Das sollten wir nicht vergessen.«
Pop schnaubte durchs Telefon. »Tut mir leid«, sagte er. »Aber das ist eine Lüge. Die Zahnfee ist eine Lüge, der Golem ist eine Lüge, der Weihnachtsmann ist eine Lüge, allesamt Lügen, aber zu behaupten, Mr Eddie sei nicht adoptiert, ist ein eklatanter Verstoß gegen das neunte Gebot. Hör zu, Daniel, ich sage dir das aus tiefster Überzeugung. Willst du noch mehr tsuris, als du ohnehin schon hast? Nur zu, verbreite diese Lüge!«
Dan sah Alice an, zeigte auf das Telefon und ließ seinen Zeigefinger vor seinem Ohr kreisen, um zu zeigen, was er von Alice’ Vater hielt.
»Pop«, sagte Alice und nahm den Hörer, den Dan bis dahin so gehalten hatte, dass beide mithören konnten. »Du machst aus einer Mücke einen Elefanten. Alle Wissenschaftler sind sich darin einig, dass es besser ist, einem Kind nichts von seiner Adoption zu erzählen. Das ist wie eine Notlüge oder eine Unterschlagung, und es ist nur zu Eddies Wohl.«
»Also gut, vergesst es, ich weiß von nichts«, antwortete Pop. »Was habe ich überhaupt damit zu tun, ob Alice und Dr. Dan Lügengeschichten verbreiten? Nur zu, mir soll’s recht sein. Nur, a glick ahf dir, wartet ab, was ihr davon habt.«
Alice und Dan machten das, was viele amerikanische Juden machten, wenn sie ihr Elternhaus verlassen hatten und nun selbst Eltern waren: Sie traten einer reformierten Gemeinde bei und feierten das eine oder andere jüdische Fest. In der Temple-Beth-David-Gemeinde, in der Nate Weisfeld inzwischen der Oberrabbiner war, aßen sie an Sukkot Obstkuchen und Eiscreme in einer Laubhütte, die Sechstklässler gebaut hatten. An Purim durften die Kinder sich
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