Ed Loy - 01 - Blut von meinem Blut
ob ich mir schon einen Vorwand überlegt hatte oder ob ich überhaupt einen brauchte, also sagte ich ihr die Wahrheit: Meine verstorbene Mutter hatte früher hier gewohnt, und ich fragte mich, ob wohl noch ein paar alte Nachbarn übrig waren. Die Frau antwortete, sie sei selbst gerade erst eingezogen und hier wohnten fast nur junge Familien, aber sie meinte, eine alte Dame in dem Eckhaus links gesehen zu haben, dem Haus mit dem wundervollen Garten.
Das Eckhaus links war das zweite ohne Anbau, und von einem wundervollen Garten konnte man durchaus sprechen, zumindest wenn man eine alte Dame war oder irgendwann eine werden wollte. In der Mitte befand sich ein rundes Beet mit roten und orangefarbenen Dahlien, gelben und rosafarbenen Begonien und dunkelroten Wicken, der Rasen war gut gewässert und voller Klee, und in den Beeten, die ihn an allen vier Seiten umschlossen, blühten hellblauer Rittersporn, weiße Löwenmäulchen und orange-gelb gefleckte Lilien. Ich hörte den Fernseher schon auf der Straße. Als ich vor der Tür stand, konnte ich die Handlung praktisch mitverfolgen: Es war eine dieser Krimiserien, bei denen die Gerichtsmedizinerin in geistreichen Wortwechseln mit dem Gerichtsmediziner flirtet, während sie gemeinsam in den Gedärmen von Toten herumwühlen. Ich klingelte und klopfte sicherheitshalber noch an die Tür, aber gleich darauf klappte der Briefkastenschlitz auf. Ich ging in die Hocke, um hineinzusehen. Ein Paar dicke Brillengläser blickten mir entgegen, begleitet vom Kläffen eines kleinen Hundes.
»Ich bin nicht taub«, verkündete die kecke Stimme einer alten Dame.
»Entschuldigen Sie, dass ich Sie so spät noch störe«, sagte ich.
»Was wollen Sie denn, junger Mann? Wissen Sie, meine Sendung läuft gerade, ich habe mich den ganzen Tag darauf gefreut.«
»Mein Name ist Edward Loy«, antwortete ich.
Der Briefkastenschlitz klappte zu, die Tür ging auf, und vor mir stand eine zierliche alte Dame mit baiserweißem Haar. Sie breitete die Arme aus, als wollte sie mich an ihr Herz drücken.
»Ich habe dich in der Kirche gesehen. Gott schütze dich, Jungchen«, sagte sie. »Und die arme Daphne in ihrem frischen Grab.«
Der Hund, ein Jack-Russell-Terrier, schnappte nach meinen Knöcheln. Im Fernsehen unterhielten sie sich lautstark über Blutgruppen und Verwesungsprozesse.
»Rein mit dir, Mr. Burke!«, kommandierte die Frau, und der kleine Hund wetzte zurück ins Haus.
»Komm doch rein, Jungchen«, sagte sie. »Ich habe kaum etwas im Haus, aber du kannst einen Tee haben.«
»Wenn es Ihnen keine Umstände macht? Ich dachte … Sie müssen meine Mutter ja gekannt haben …«
»Ja, wir sind doch schließlich alle zusammen aufgewachsen, ich, deine Mutter und dein Vater, Gott steh ihm bei. Komm rein, komm rein.«
Helle Neonlampen tauchten das Haus in gleißendes Licht und lenkten den Blick auf die abgetretenen, verschlissenen Teppiche und die rissigen, abblätternden Tapeten. Es roch penetrant nach Feuchtigkeit, Staub, Reinigungsmittel und Bratensoße. Auf einer Furnierkommode im Wohnzimmer stand eine ganze Fotogalerie in billigen Rahmen.
»Elf Kinder haben wir hier großgezogen, Mr. Burke und ich«, erzählte sie. »Jetzt sind sie in alle Richtungen davon: Deutschland, Holland, die Staaten, ein paar in County Cork. Enkel habe ich so viele, dass ich sie kaum zählen kann. Jede Woche muss man ein Geburtstagsgeschenk verschicken, manchmal sogar zwei.«
»Mr. Burke?«, fragte ich und deutete auf den Jack-Russell-Terrier, der sich unter das Sofa verzogen hatte.
»Ach, ein bisschen Spaß muss sein, findest du nicht? Und wenn du’s genau wissen willst, manchmal erinnert er mich sogar an ihn, dieser grantige kleine Mistkäfer.«
Der Hund kläffte, und Mrs. Burke ging in die Küche. Der Fernseher beschallte uns immer noch, inzwischen mit Werbespots: Immobilienangebote in Budapest und Sofia. Der abwesende britische Hausbesitzer, der seine Pächter ausnutzt und sie ohne jede Hoffnung auf eine gesicherte Zukunft zurücklässt, war eine viel geschmähte Gestalt in der irischen Geschichte. Kein Wunder also, dass viele Iren die Methoden ihrer Kolonialherren so verinnerlicht hatten, dass sie jetzt versuchten, sie nachzuahmen, billige Immobilien in aufstrebenden Ländern zu kaufen und sich auf Kosten der dortigen Bevölkerung zu bereichern. Jetzt waren wir einmal dran.
Mrs. Burke schleppte ein goldenes Metalltablett mit Teegeschirr herein. Sie hielt mir das Tablett hin; ich wollte es ihr abnehmen,
Weitere Kostenlose Bücher