Edelherb: Roman (German Edition)
Gesicht meines Bruders in die Hände und küsste ihn auf beide Wangen. »Leo, ich möchte dich etwas fragen. Glaubst du, Yuji Ono ist ein guter Mensch?«
»Ja«, sagte Leo. »Aber ich habe ihn schon sehr lange nicht mehr gesehen. Seit Januar hat er sich zurückgezogen. Noriko meint, er könnte sich auf seinen Reisen mit einer Krankheit angesteckt haben. In seiner Familie weiß keiner Bescheid, er ist sehr verschlossen.«
Ich nahm Leos Hand. Der silberne Ring an seinem Finger überraschte mich noch immer. »Leo, bist du sehr verliebt in Noriko?«
»Ja!«, erwiderte er. »Ich liebe sie mehr als jeden, den ich kenne, außer dich und Natty.«
»Warum?«
»Ich finde, sie ist das schönste Mädchen der Welt, außer dir und …«
Ich unterbrach ihn. »Außer mir und Natty, ich weiß. Und du hast recht: Sie ist sehr hübsch. Was noch, Leo?«
Er bekam einen ernsten Gesichtsausdruck. »Es geht darum, Anya, sie behandelt mich nicht, als wäre ich dumm. Du wirst das wahrscheinlich nicht glauben, aber sie hält mich für wirklich schlau.« Er hatte Tränen in den Augenwinkeln. »Es tut mir leid, Annie. Ich entschuldige mich für all die Probleme, die ich dir im letzten Frühjahr gemacht habe. Ich weiß, was du alles für mich getan hast. Yuji Ono hat erzählt, du bist sogar für mich ins Gefängnis gegangen.«
Ich erwiderte, dass ich es erneut tun würde. Er sei mein Bruder, ich würde alles für ihn tun. »Leo, Yuri ist inzwischen tot und Mickey ist weg. Aber wir müssen mit den Behörden irgendwas vereinbaren, damit Noriko und du in Frieden hier leben könnt.«
Er nickte.
»Es kann auch sein, dass du selbst für kurze Zeit ins Gefängnis gehen musst.«
»Gut«, sagte er mit solcher Gleichgültigkeit, dass ich nicht umhinkonnte, mich zu fragen, ob er meine Aussage überhaupt verstanden hatte. »Solange Noriko hier bei dir und Natty bleiben kann. Du musst auf sie aufpassen.«
»Natürlich, Leo. Sie ist jetzt meine Schwester«, antwortete ich.
Die Welt war wirklich erstaunlich. Am Morgen hatte ich nur eine Schwester gehabt, und als der Tag zu Ende ging, hatte ich eine Schwester, eine Schwägerin, einen Bruder und einen Halbbruder.
XVIII. Ich gehe zum Schulball, und niemand wird erschossen
Als Gegenleistung für eine weitere moderate Schmiergeldzahlung an das Komitee von Bertha Sinclair für deren Wiederwahl bekam Leo eine siebenmonatige Haftstrafe in der psychiatrischen Einrichtung Hudson River und zwei Jahre auf Bewährung. Zu Thanksgiving würde er wieder draußen sein.
Am dritten Aprilwochenende brachten Mr. Kipling, Daisy Gogol, Noriko und ich Leo nach Albany. Er küsste seine Frau (Seine
Frau
! Dass Leo verheiratet war, konnte ich immer noch nicht ganz fassen.), winkte uns anderen zu, und das war es. Noriko weinte auf der ganzen vierstündigen Heimfahrt. Wir versuchten sie zu trösten, aber sie sprach fast kein Englisch und wir kein Japanisch, deshalb waren wir wohl keine große Hilfe.
Zufällig war an jenem Abend Schulball. Ich hatte nicht hingehen wollen, aber Win hatte mich davon überzeugt, dass wir hingehen sollten, und wenn nur, um die Katastrophe des Vorjahres wettzumachen. »Meinst du, man lässt mich überhaupt aufs Gelände?«, hatte ich gefragt. Er erinnerte mich daran, dass ich beim letzten Mal genau genommen nicht der Schule verwiesen worden war.
Ich hatte mir keine Mühe gemacht, ein Kleid zu besorgen, deshalb wühlte ich in den alten Sachen von Nana und meiner Mutter herum. Ich wählte ein hochgeschlossenes dunkelblaues Kleid mit angeschnittenen Ärmeln und tiefem Rückenausschnitt. Ich fand, es stand mir gut, doch als Noriko mich sah, rief sie: » NEIN !«
»Nein?«, fragte ich.
»Schlecht«, sagte sie und zog den Reißverschluss am Rücken wieder auf. »Alte Frau.«
Noriko ging in Leos Zimmer und kam mit einem weißen Kleid zurück. Es war mit Spitze überzogen und mochte bei ihr eine akzeptable Länge haben, war mir aber zu kurz. Ich würde aussehen wie eine durchgeknallte Braut. »Du nimmst das«, sagte Noriko. Sie lächelte. Es war das erste Lächeln von ihr an diesem Tag, und ich dachte an mein Versprechen gegenüber Leo, auf seine Frau aufzupassen. Eigentlich war mir die Kleiderfrage sowieso egal, deshalb erklärte ich mich einverstanden, ihr Kleid anzuprobieren.
Ich betrachtete mich im Spiegel. Am Oberkörper war es etwas eng, ansonsten passte es überraschend gut.
Noriko trat hinter mich, um die Schärpe zurechtzurücken, die sie auf dem Rücken zusammenband. »So schön«,
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