Edelherb: Roman (German Edition)
»Woher wusste Leo denn, dass er zu dir gehen musste, um seinen eigenen Tod zu inszenieren?«
»Er kam nicht zu mir.« Simon Green erklärte, sobald er erfahren hätte, dass ich Yuji Onos Heiratsantrag ablehnte, habe er mit der Planung begonnen, Leo aus Japan herauszuholen. »Ich dachte, er wäre dort nicht mehr sicher.«
Ich fragte mich, ob ich irgendwie missverstanden hätte, was Leo mir erklärt hatte. Er hatte ausdrücklich gesagt, er hätte entschieden, seinen Tod vorzuspielen, nicht wahr?
Ich fragte Simon, ob Mr. Kipling Bescheid gewusst hätte.
Er schüttelte verneinend den Kopf.
»Warum hat unser Vater uns nie von dir erzählt?«
»Denk doch mal nach, Anya! Ich bin acht Jahre älter als Leo. Wahrscheinlich hat dein Vater erst von mir erfahren, als meine Mutter starb.«
Daddy hätte es uns sagen sollen.
»Dein Vater war ein guter Mann«, fuhr Simon Green fort. »Aber er war auch nur ein Mann.«
Ich drehte der Stadt den Rücken zu und schaute durch die Glastüren ins Wohnzimmer, wo Leo Natty mit seiner Frau bekannt machte. Mit seiner
Frau
!
Simon nahm meine Hand. »Ich möchte, dass du mir vertraust, Anya. Ich möchte dein Partner sein. Ich möchte der Bruder sein, der Leo nicht sein kann. Ich möchte, dass du irgendwann freiwillig ein wenig Last auf meine Schultern abladen kannst.«
Ich schüttelte den Kopf.
»Warum denn nicht? Verstehst du nicht, dass ich alles aufs Spiel gesetzt habe, um Leo zu retten? Du musst wissen, dass ich das für dich getan habe.«
»Es ist einfach im Moment ein bisschen viel für mich. Gib mir ein wenig Zeit«, bat ich. »Aber wir müssen etwas wegen Leos rechtlicher Lage unternehmen«, fuhr ich fort. »Wir werden ihn nicht hier in der Wohnung verstecken können. Und wir können ihn sicherlich nicht für alle Zeit als Flüchtling herumlaufen lassen.«
Simon stimmte mir zu. »Sobald die Osterfeiertage vorbei sind, werde ich zu Bertha Sinclair gehen.«
»Könnte Mr. Kipling vielleicht eine Hilfe sein?«, schlug ich vor.
»Ja, ich denke, das könnten wir in die Wege leiten.«
Als Simon Green sich verabschiedet hatte und alle anderen ins Bett gegangen waren, begab ich mich in die Küche. Ich konnte nicht schlafen. Es war zu spät, um Win anzurufen. Er hatte in Connecticut zusammen mit seiner Mutter ein College besichtigt, und selbst wenn es noch früh gewesen wäre, konnte ich nicht mal ansatzweise die Ereignisse dieses Tages zusammenfassen.
Ich ließ Wasser aus dem Hahn in ein Glas laufen und setzte mich an den Tisch. Die Küche wirkte sonderbar hell. Sie war ein anderer Raum als am Morgen. Irgendwie war sie nun bunter, und mein Kopf war überwältigt von Gefühlen. Es gab so vieles für mich zu klären, nun da Leo zurück war.
Ich faltete die Hände und senkte den Kopf.
Danke, lieber Gott. Dass du mir meinen Bruder zurückgegeben hast. Danke.
In dem Moment kam Leo in die Küche. Er trug ein weißes T-Shirt und eine Schlafanzughose.
»Annie«, sagte er. »Hab mir gedacht, dass du wach bist.« Er setzte sich mir gegenüber an den Tisch.
Ich sagte, ich hätte ihn hoffentlich nicht geweckt.
»Du weckst mich immer«, erwiderte er. »Wie damals in der Nacht mit Gable Arsley. Ich lausche immer nach dir.«
Ich lächelte ihn an. »Leo, wie sind Noriko und du zurück nach Amerika gekommen?«
»Mit dem Schiff«, erwiderte Leo. »Simon Green hat uns abgeholt.«
Ich hatte noch so viele Fragen, aber wollte meinen Bruder nicht damit überfordern. »Leo, kannst du mir etwas erklären? Yuji Ono hat mir gesagt, deine Freundin käme aus einem Fischerdorf und sei zusammen mit dir umgebracht worden. Er hat nie etwas von einer Nichte erzählt.«
Leo zuckte mit den Achseln. »Noriko kommt wirklich aus einem Fischerdorf«, erklärte er. »Ab Oktober habe ich bei ihrer Familie gewohnt, weil Yuji Ono meinte, ich sei nicht mehr sicher bei den Mönchen. Noriko ist die Tochter von Yuji Onos Halbbruder.«
Yuji Ono hatte Leo umquartiert? Davon hatte er auf jeden Fall nie etwas erwähnt. Und wenn das stimmte, deckte sich das nicht unbedingt mit Simon Greens Beschreibung der Situation – nämlich dass Leo in Japan gefährdet gewesen war, nachdem ich Yujis Heiratsantrag abgelehnt hatte. Wessen Asche war uns eigentlich geschickt worden? Und warum hatte Yuji gelogen und behauptet, er hätte Norikos Leiche gesehen? Ich schüttelte den Kopf. Ich musste unbedingt mit ihm sprechen, aber er war noch immer nicht erreichbar und hatte auch nicht versucht, sich bei mir zu melden.
Ich nahm das
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