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Edelherb: Roman (German Edition)

Edelherb: Roman (German Edition)

Titel: Edelherb: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabrielle Zevin
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sagte sie.
    Ich schüttelte den Kopf. Natty kam aus ihrem Zimmer, um mich zu begutachten. »Du siehst …« – sie überlegte – »durchgedreht, aber toll aus. Toll durchgedreht.« Sie gab mir einen Kuss auf die Wange. »Win wird begeistert sein.«
    Mein Freund kam zu uns in die Wohnung. Er befestigte eine Orchidee an meinem Handgelenk. Ich wartete darauf, dass er einen Witz über mein verrücktes Kleid machte, aber ihm schien nicht aufzufallen, dass etwas nicht stimmte. »Du siehst schön aus«, sagte er. »Hoffen wir, dass dieses Jahr auf niemand geschossen wird. Könnte schwer werden, das Blut aus diesem Kleid zu bekommen.«
    »Ich glaube, theoretisch ist es noch zu früh für solche Witze«, sagte ich.
    »Oh«, machte er. »Und wann ist der richtige Moment?«
    »Wahrscheinlich nie«, entgegnete ich. »Interessante Jacke übrigens.« Er trug ein weißes Sakko mit schwarzen Streifen. Sommerlich. Protzig.
    »Meinst du mit ›interessant‹, dass es dir nicht gefällt? Denn wer im Glashaus sitzt – und damit meine ich Menschen, die wie Bräute zum Ball gehen –, sollte nicht …«
    »Das habe ich nicht gesagt. Es ist, hm, ungewöhnlich.«
    Er erklärte, sein alter Smoking sei im letzten Jahr im Krankenhaus verlorengegangen. Ich entgegnete, man hätte ihn bestimmt herausgeschnitten. »Das erklärt es«, sagte Win. »Dieses Sakko gehört meinem Vater. Er hatte nur Frack oder Abendgarderobe zur Auswahl. Ich habe mich für das helle Ensemble entschieden, damit ich nicht wieder mit jemandem verwechselt werde.«
    Auf dem Ball schienen sich meine Klassenkameraden zu freuen, mich zu sehen. Die Verwaltung tolerierte mich. Das Motto des Abends war »Zukunft«, doch die kreativen Fähigkeiten des Organisationskomitees mussten mager sein, ihm war nicht viel dazu eingefallen, das Motto bildlich umzusetzen. Es gab Dekoration in Form von reflektierenden Tellern und Tassen, Uhren und einem riesigen schwarzen digitalen Spruchband, auf dem stand: » WO WIRST DU 2104 SEIN ?« Die Vision der Zukunft war bestenfalls vage, ich fand das Ganze ziemlich beklemmend. Ich hatte keine Ahnung, wo ich nächstes Jahr sein würde, ganz zu schweigen von in zwanzig Jahren. Die erste Antwort, die mir beim Lesen des Spruchbands in den Sinn kam, war ehrlich gesagt:
Tot. Im Jahr 2104 werde ich wahrscheinlich tot sein.
    Scarlet riss mich aus meinen morbiden Gedanken. Sie war ungefähr im siebten Monat schwanger und sah in ihrem voluminösen rosa Kleid hübsch und erschreckend zugleich aus. Sie war allein gekommen. Ihr Gesellschaft zu leisten war noch ein Vorwand gewesen, den Win genutzt hatte, um mich zu überreden, überhaupt zu diesem albernen Ball zu gehen.
    »Annie, was für ein tolles Kleid!« Natürlich fand sie es toll. Scarlet und Noriko würden sich bestimmt bestens verstehen, wenn ich sie erst mal einander vorgestellt hätte. Scarlet gab mir einen Kuss, und Win holte uns etwas zu trinken. »Ich bin so froh, dass du heute dabei bist. Ist Leo gut in Albany angekommen?«
    Ich nickte. »Wie geht es dir?«, fragte ich.
    »Furchtbar«, sagte Scarlet. »Ich wäre besser gar nicht gekommen. Es gibt nichts Traurigeres als ein hochschwangeres Mädchen auf einem Schulball. Ich finde das Kleid grässlich und bin zu unförmig zum Tanzen.«
    »Das stimmt nicht.«
    »Na, es will eh niemand mit mir tanzen außer Arsley.«
    Ich bot ihr an, sie aufzufordern, doch sie schüttelte den Kopf. »Wir sind keine Kinder mehr, Anya.«
    »Dann hör auf mit deinem Selbstmitleid! Mich sieht die Rektorin immer wieder vorwurfsvoll an, und dieses Zukunftsmotto macht mich auch ganz nervös«, bemerkte ich.
    Scarlet lachte halbherzig.
    Win kam mit den Gläsern zurück. »Ich tanze mit dir«, sagt er zu Scarlet.
    »Was bin ich? Eine alte Jungfer, mit der alle Mitleid haben?«, fragte sie mit gespieltem Entsetzen.
    »Nein. Aber Anya hat nie Lust zu tanzen«, entgegnete Win mit Blick auf mich. »Und du bist das geschwängerte Mädchen, mit dem
ich
Mitleid habe. Los, komm!« Er reichte Scarlet die Hand. »Ernsthaft, es wäre schön, mit jemandem zu tanzen, den ich nicht erst überreden muss.«
    »Eigentlich müsste ich das hier über dich schütten«, sagte Scarlet zu Win, als sie mir ihr Glas reichte. Ich sah ihnen nach, wie sie zur Tanzfläche gingen.
    Selbst in ihrem schwangeren Zustand bewegte sich Scarlet noch sehr geschmeidig. Ich beobachtete die beiden mit einer gewissen Belustigung, konnte mich aber gegen die in mir aufkommende Sehnsucht nicht wehren. Ich musterte

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