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Edelherb: Roman (German Edition)

Edelherb: Roman (German Edition)

Titel: Edelherb: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabrielle Zevin
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New York auf der West 52 nd Street statt. Aus sentimentalen Gründen trug ich meine alte Trinity-Uniform. Im fensterlosen Prüfungsraum betrachtete ich verstohlen die Gesichter meiner Mitprüflinge. Sie wirkten nicht besonders dumm, unterdrückt oder alt, so dass ich mich fragte, was in ihrem Leben sie in diesen Raum geführt haben mochte. Was für Fehler hatten sie begangen? Wem hatten sie fälschlicherweise vertraut? Oder hatten sie einfach nur zur falschen Zeit die falschen Eltern gehabt? Vielleicht sah ich das auch zu negativ. Vielleicht war es gar nicht so schlimm, einen alternativen Highschoolabschluss in einem Klassenzimmer ohne Fenster und funktionierender Klimaanlage zu machen. Zumindest hatten diese Menschen die Fehltritte, die sie hinter sich haben mochten, überlebt und waren gestärkt daraus hervorgegangen.
    Mr. Kipling hatte für mich einen Lehrer engagiert, und obwohl ich nicht sehr fleißig gelernt hatte, war die Prüfung nicht besonders schwer. Auch wenn ich erst in drei oder vier Wochen erfahren würde, ob ich bestanden hätte, stellte dieser Tag – wenn alles gutging – für mich letztlich das Ende meiner Schulausbildung dar. (Eine gewisse Antiklimax, oder? Andererseits … Im vergangenen Jahr hatte ich massenweise Klimaxe und sicherlich mehr als genug Konflikte und Spannungsbögen erlebt. Ich konnte durchaus ein retardierendes Moment vertragen. In der Phase wurde normalerweise niemand erschossen. Und falls sich jemand wundert, wovon ich spreche: Die Prüfung hatte auch einen literaturwissenschaftlichen Teil.) 
    Zu Hause wartete eine E-Mail auf mich. Als ich Mexiko als Länderkürzel erkannte, schämte ich mich. Da ich zumindest teilweise für Theos Verletzungen verantwortlich war, hatte ich mich nicht überwinden können, den Marquez’ zu schreiben oder sie anzurufen. Dennoch: Ein guter Mensch hätte eine Möglichkeit gefunden, von sich hören zu lassen.
    Hallo, liebe Anya,
    ich hoffe, Du hast Deinen allerbesten Freund Theo nicht vergessen. Ich schreibe Dir, weil Du mir nicht geschrieben hast. Warum legst Du solchen Wert auf Förmlichkeiten? Weißt Du nicht, dass Dein guter Freund Theo Dich vermisst? Ist er Dir völlig egal?
    Du willst bestimmt wissen, wie es mir geht. Vielleicht ist es Dir zu peinlich zu fragen. Und Du solltest wirklich große Schuldgefühle haben, Anya, weil ich sehr krank gewesen bin. Ich bin fast gestorben. Erst letzte Woche durfte ich wieder zurück auf die Plantage. Jetzt geht es mir aber fast wieder gut. Meine Schwester, meine Mutter und die Abuelas sind unerträglich, wie Du Dir vorstellen kannst. Wir haben gehört, dass unsere Cousine Sophia für das Attentat auf Dich und mich verantwortlich war. Sie war schon immer eine sehr seltsame Frau und aus verschiedenen Gründen in unserer Familie nie besonders beliebt. Gerne lege ich Dir das einmal persönlich dar. (Das ist eine Einladung, wenn Du sie denn als solche verstehen willst.) Ich schreibe Dir heute, weil die Abuelas sich für die Attentate auf Dich verantwortlich fühlen. Sie glauben, sie hätten Sophia nicht genug geliebt. (Allerdings sind sie der Meinung, dass alle Probleme in der Welt einem Mangel an Liebe zugeschrieben werden können.) Zur Wiedergutmachung haben sie mich gebeten, Dir das Rezept für die Heiße Schokolade der Familie Marquez zu schicken. Ich habe es für Dich übersetzt, aber es ist keine wörtliche Übersetzung. Wo ich dachte, dass es Dich amüsieren könnte, habe ich es ein wenig ausgeschmückt (siehe Anhang). Ich soll Dich von Abuela daran erinnern, dass es ein sehr reichhaltiges altes Rezept mit einem sehr, sehr großen gesundheitlichen und spirituellen Nutzen ist. »Bitte, Theo«, hat sie gesagt, »mach ihr klar, dass es nicht in die falschen Hände gelangen darf.«
    Anya, als Du hier warst, habe ich mich oft über meine Verantwortung für die Farm und die Fabriken beschwert. Wie sehr ich mich nach Freiheit sehnte. Seltsamerweise wollte ich in all den Monaten im Krankenhaus nur eins, nämlich zurück in die Fabriken und auf die Plantagen. Daher war es vielleicht gut, dass ich fast erschossen wurde. (Das war ein Witz. Ich bin immer noch der witzigste Mensch, den Du kennst, wette ich.)
    Ich hoffe, dass Du eines Tages wieder nach Chiapas kommst. Du hast ein Talent für Kakao und seine Produktion, aber ich kann Dir immer noch viel beibringen.
     
    Besos,
    Theobroma Marquez
    Ich las das Rezept, dann ging ich in die Küche. Wir hatten weder Rosenblätter noch Chilipulver da, aber am heutigen

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