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Edelherb: Roman (German Edition)

Edelherb: Roman (German Edition)

Titel: Edelherb: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabrielle Zevin
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Samstag war Markt, daher beschloss ich, mit dem Bus runter zum Union Square zu fahren und die Zutaten einzukaufen. Daisy hatte heute frei, und Natty war mit dem Lernen für die Prüfungen beschäftigt, deshalb ging ich allein.
    Die Rosen waren ohne große Schwierigkeiten zu besorgen, doch ich hatte Probleme, das Chilipulver zu finden. Gerade wollte ich aufgeben, als ich einen Stand entdeckte, der laut seinem Schild MEDIZINISCHE KRÄUTER , GEWÜRZE  & TINKTUREN verkaufte. Ich ging in das gestreifte Zelt. Es roch nach Weihrauch. In Holzregalen auf Rollen standen reihenweise handbeschriftete Gläser.
    Schnell suchte der Inhaber ein kleines Glas mit Chilipulver heraus. »Ist das alles, meine Liebe?«, fragte er. »Schauen Sie sich um. Ich habe noch viele andere verlockende Produkte, und wenn Sie zwei kaufen, ist das dritte umsonst.« Er hatte ein Glasauge, trug einen Samtmantel und einen Gehstock und erinnerte mich an einen Zauberer. Das Glasauge war ein sehr gutes. Mir fiel nur auf, dass es künstlich war, weil es mir nicht quer durch den Laden folgte wie das andere.
    Im untersten Regal stand ein kleines Glas mit Kakaokernbruch. Als ich es in die Hand nahm, spürte ich Sehnsucht nach Granja Mañana aufkommen. Ich hielt es dem Inhaber entgegen. »Wieso dürfen Sie das hier verkaufen? Ohne verhaftet zu werden, meine ich?«
    »Das ist völlig in Ordnung, kann ich Ihnen versichern.« Sein Auge sah mich mit bösem Blick an. »Sind Sie von der Behörde?«
    Ich schüttelte den Kopf. »Von der anderen Seite.«
    Fragend schaute er mich an, aber ich hatte keine Lust, ihm meine ganze Lebensgeschichte zu erzählen. Stattdessen erklärte ich ihm, ich sei ein großer Schokoladenliebhaber, und er schien mir das abzunehmen.
    Mit Hilfe seines Gehstocks wies der Standbetreiber auf das Wort
medizinisch
auf seinem Schild. »Selbst in unserem korrupten Land darf man so viel Kakao verkaufen, wie man will, solange es für medizinische Zwecke ist.« Er entriss mir das kleine Glas. »Aber ich kann Ihnen gerade diesen Artikel nicht verkaufen, wenn Sie kein Rezept dafür haben.«
    »Ah«, machte ich. »Natürlich.« Aus Neugier fragte ich, bei was für einer Krankheit ich ein Rezept bekäme.
    Er zuckte mit den Schultern. »Depressionen wahrscheinlich. Kakao wirkt stimmungsaufhellend. Osteoporose. Anämie. Ich bin kein Arzt, Miss. Ich habe eine Bekannte, die aus Kakao Hautcreme herstellt.«
    Ich erhob mich wieder aus der Hocke und reichte ihm das Glas mit Chilipulver. »Dann nehme ich wohl nur das hier.«
    Der Inhaber nickte. Als ich bezahlte, sagte er: »Sie sind die kleine Balanchine, nicht?«
    Paranoid, wie ich als Mafiatochter war, sah ich mich erst einmal um, bevor ich antwortete: »Ja, bin ich.«
    »Hab ich mir doch gedacht. Ich habe Ihren Fall genau verfolgt. Es war alles sehr unfair Ihnen gegenüber, nicht?«
    Ich erwiderte, ich versuchte, nicht darüber nachzudenken.
    Auf der Busfahrt nach Hause dufteten die Rosen durchdringend. Ich schaute in meine Tasche und sah, dass der alte Mann, der kein Zauberer war, den Kakaokernbruch mit zum Chilipulver gelegt hatte.
    Seit dem Busunfall war ich in öffentlichen Verkehrsmitteln immer noch leicht nervös, doch die rosengeschwängerte Luft vermittelte mir ein Gefühl von Ruhe und Klarheit. Ich entspannte mich. Mein Kopf wurde zunächst ganz leer, und dann formte sich langsam ein Bild vor meinem inneren Auge. Zuerst sah ich die Jungfrau von Guadalupe, ich erkannte sie an dem Kranz aus Rosen um ihren Kopf und weil ihr Bild in Granja Mañana allgegenwärtig gewesen war. Dann merkte ich, dass sie kein Mensch aus Fleisch und Blut war, sondern ein Gemälde an der Wand, und unter diesem Bild standen Worte:
Fürchte keine Krankheit oder Plage, keine Sorge, keinen Schmerz. Bin ich nicht deine Mutter? Stehst du nicht unter meinem Mantel und meinem Schutz? Bin ich nicht der Quell des Lebens? Brauchst du noch irgendetwas anderes?
Das Bild hing an der Rückwand eines kleineren Lädchens. In den dunklen Mahagoniregalen stapelte sich Balanchine-Schokolade. Sie lag offen für jeden sichtbar da, sogar vorne in den Schaufenstern. Auf dem Ladenschild stand:
    Balanchines Arzneischokolade
    Schokolade für die Gesundheit
– Verschreibungspflichtig – Arzt vor Ort.
    Ich setzte mich auf.
    Ich war nicht so klug wie meine Schwester. Niemand war je auf die Idee gekommen, mich in ein Ferienlager für Hochbegabte zu schicken, was auch ganz richtig war – ich neigte nicht zu Geistesblitzen. Wenn ich genial war, dann eher

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