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Edelherb: Roman (German Edition)

Edelherb: Roman (German Edition)

Titel: Edelherb: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabrielle Zevin
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Wahlkampfteam von Wins Vater arbeiteten.
    »Es tut mir leid, Anya, aber ich möchte nicht vorgeben, etwas anderes als erleichtert zu sein.«
    Ich hatte das Telefonkabel um mein Handgelenk gewickelt. Allmählich wurden meine Finger weiß, da sie nicht mehr durchblutet wurden.
    »Weiter geht’s! Das Thema Schule!«, rief Mr. Kipling heiter.
    »Haben Sie was gefunden?«
    »Nein, aber ich habe eine Idee, die ich gern mit dir besprechen würde. Was hältst du von Privatunterricht?«
    »Privatunterricht?«, wiederholte ich.
    »Ja, dann würdest du dein letztes Jahr zu Hause absolvieren. Wir würden einen oder auch mehrere Privatlehrer engagieren. Du könntest trotz allem die Zulassungsprüfungen fürs College machen …« Mr. Kipling schwärmte weiter vom Privatunterricht, doch ich hörte nicht mehr zu. War das nicht etwas für unangepasste Außenseiter? Für Verhaltensgestörte? Andererseits vermutete ich, dass ich auf dem besten Weg war, beides zu werden. »Und?«, sagte Mr. Kipling.
    »Fühlt sich irgendwie an, als würde ich aufgeben«, entgegnete ich nach einigem Nachdenken.
    »Nicht aufgeben. Nur dich ein wenig zurückziehen, bis uns etwas Besseres einfällt.«
    »Na, ein Vorteil wäre, dass ich wohl Klassenbeste werden würde.«
    »Das ist die richtige Einstellung, Annie.«
    Mr. Kipling und ich verabschiedeten uns, ich legte auf. Es war erst zehn Uhr morgens, und ich hatte keine Pläne für den Rest des Tages, außer darauf zu warten, dass Natty nach Hause kam. Ich musste an Leo denken und fragte mich, wie es ihm gegangen war, als die Tierklinik letztes Jahr geschlossen hatte. Hatte er sich auch so gefühlt? Vergessen, entsorgt, ausgegrenzt?
    Mein Bruder fehlte mir.
    Natty und ich hatten es am Sonntag nicht zur Kirche geschafft, daher beschloss ich in Ermangelung anderer Pläne, nun dorthin zu gehen.
    Falls ich es noch nicht erwähnt haben sollte: Die Kirche, die Natty und ich besuchten, war die St. Patrick’s Cathedral. Ich mochte das Gotteshaus, auch wenn es schon arg baufällig war. Ich hatte hundert Jahre alte Bilder von ihm gesehen, als es noch beide Türme besaß und kein Loch in der Decke hatte. Doch ich mochte das Loch irgendwie. Es gefiel mir, beim Beten den Himmel sehen zu können. Ich warf einen Dollar in den Korb, mit dem für die Renovierung gesammelt wurde, und betrat das Kirchenschiff. Die Menschen, die an einem Montagvormittag in einer verkommenen Stadt in einer Kirche sitzen, waren eine ziemlich traurige Gesellschaft: Alte, Obdachlose. Ich war die einzige Jugendliche.
    Ich setzte mich in eine Bank und bekreuzigte mich.
    Zuerst sprach ich die üblichen Gebete für meine Mutter und meinen Vater im Himmel. Ich bat Gott, auf Leo in Japan aufzupassen. Und ich dankte ihm, dass er uns bis jetzt alle beschützt hatte.
    Dann bat ich um etwas für mich.
Bitte,
flüsterte ich,
lass mich eine Möglichkeit finden, wie ich rechtzeitig meinen Abschluss machen kann.
Ich wusste, dass es angesichts der vielschichtigeren Probleme in meinem Leben und der Welt im Allgemeinen irgendwie albern war, um so etwas zu bitten. Und ich möchte festhalten, dass ich es billig fand, ein Gebet für so ein Anliegen zu missbrauchen – der liebe Gott war nicht der Weihnachtsmann. Doch ich hatte viel geopfert, und das Herz wünscht sich halt, wonach es sich sehnt, und manchmal will es einfach nur beim Schulabschluss der Highschool mit den anderen zusammen den Gang entlangschreiten.
    Als ich von der Kirche zurückkam, klingelte das Telefon.
    »Hier ist Mr. Rose, Sekretariat von Holy Trinity. Ich würde gerne mit Anya Balanchine sprechen.«
    »Am Apparat.«
    »Die Rektorin würde gerne morgen früh um neun mit Ihnen sprechen. Haben Sie Zeit?«
    »Um was geht es denn?«, fragte ich. Es konnte ja beispielsweise etwas mit meiner kleinen Schwester sein.
    »Genaueres würde die Rektorin lieber mit Ihnen persönlich besprechen.«
     
    Ich erzählte Natty und Scarlet nichts von meinem Termin und zog auch nicht meine alte Schuluniform an. Ich wollte nicht auf das hoffen, was ich mir so sehnlichst wünschte – dass der Verwaltungsrat von Holy Trinity irgendwie seinen Entschluss revidiert hatte, dass man Mitleid mit mir bekommen hatte und mir nun erlaubte, zurückzukehren und mein letztes Schuljahr zu absolvieren.
    Mr. Kipling erbot sich, mich zu dem Termin zu begleiten, doch ich hielt es für besser, allein hinzugehen. Ich wollte die Rektorin nicht daran erinnern, dass ich eine Schülerin war, die statt eines Elternteils einen Anwalt

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