Edelherb: Roman (German Edition)
beiden Aufenthalten hier. Ich musste nicht mal den Overall überziehen. Stattdessen wurde ich an eine Wachfrau übergeben, die ich nicht kannte, dann ging es einen Korridor entlang.
Ein Korridor, der zu einem Treppenhaus führte.
Ich kannte diesen Weg, und er konnte nur eines bedeuten:
Der Keller.
Einmal schon war ich dort gewesen, und der Aufenthalt hatte mich fast umgebracht oder zumindest verrückt gemacht.
Ich konnte bereits die Exkremente und den Schimmel riechen. Angst kroch mir ins Herz. Ich blieb stehen. »Nein«, sagte ich. »Nein, nein. Ich muss mit meinem Anwalt sprechen.«
»Ich habe meine Anweisungen«, sagte die Wärterin ohne jede Gefühlsregung.
»Ich schwöre beim Grab meiner toten Eltern, dass ich nichts Verbotenes getan habe.«
Die Wachfrau schubste mich, ich fiel auf die Knie, sie rissen am Beton auf. Es war bereits stockduster und stank entsetzlich. Mir kam die Idee, wenn ich einfach liegen bliebe, könnte mich niemand zwingen, dort hinunterzugehen.
»Mädchen«, sagte die Wachfrau. »Wenn du jetzt nicht aufstehst, schlag ich dich k.o. und trage dich eigenhändig da runter.«
Ich rang die Hände. »Ich kann nicht. Ich kann nicht. Wirklich nicht.« Nun flehte ich sie an. »Ich kann das nicht.« Ich umklammerte ihr Bein, hatte jede Würde verloren.
» UNTERSTÜTZUNG !«, rief die Wärterin. » GEFANGENE LEISTET WIDERSTAND !«
Eine Sekunde später spürte ich seitlich am Hals den Einstich einer Spritze. Ich wurde nicht ohnmächtig, doch mein Kopf wurde leer, ich hatte das Gefühl, alle Sorgen hinter mir zu lassen. Die Frau warf mich über ihre Schulter, als sei ich federleicht, und trug mich drei Treppen hinunter. Ich bekam es kaum mit, als sie mich in der Zelle ablud. Kaum war die Tür hinter mir geschlossen, verlor ich das Bewusstsein.
Als ich erwachte, hatte ich Schmerzen am ganzen Körper, und meine Schuluniform war verdächtig feucht.
Vor meinem kleinen Verschlag sah ich zwei übereinander geschlagene Beine in einer dunklen Schurwollhose, dazu frisch geputzte Schuhe. Ich fragte mich, ob ich Halluzinationen hätte – bisher hatte ich im Keller noch nie Licht gehabt. Der Strahl einer Taschenlampe bewegte sich auf mich zu.
»Anya Balanchine«, begrüßte mich Charles Delacroix. »Ich warte jetzt schon fast zehn Minuten darauf, dass du aufwachst. Ich bin ein vielbeschäftigter Mann, weißt du. Trostloser Ort hier. Ich darf nicht vergessen, den Laden irgendwann schließen zu lassen.«
Mein Hals war trocken, wahrscheinlich von dem Medikament, das man mir verabreicht hatte. »Wie viel Uhr ist es?«, krächzte ich. »Welcher Tag ist heute?«
Er schob einen Thermosbecher zwischen den Stäben hindurch, und ich trank hastig.
»Zwei Uhr nachts«, erklärte er. »Sonntag.«
Ich hatte fast zwanzig Stunden geschlafen.
»Sind Sie der Grund, warum ich hier bin?«, fragte ich.
»Das ist zu viel der Ehre. Was ist mit meinem Sohn? Oder mit dir selbst? Vielleicht sind es die Sterne? Oder dein kostbarer Jesus Christus? Du bist doch katholisch, oder?«
Ich antwortete nicht.
Charles Delacroix gähnte.
»Lange gearbeitet?«, fragte ich.
»Ja, sehr.«
»Danke, dass Sie sich die Zeit genommen haben, wo Sie doch so beschäftigt sind«, sagte ich sarkastisch.
»Schon gut, Anya, du und ich, wir konnten immer offen miteinander reden, also von daher«, setzte er an. Dann holte er einen Tablet aus seiner Tasche und stellte ihn an. Er drehte ihn zu mir herum. Ein Foto zeigte Win und mich im Speisesaal von Trinity. Win hielt über den Tisch hinweg meine Hand. Es war am Freitag aufgenommen worden. Wie lange hatte er meine Hand in seiner gehabt? Keine zwei Sekunden, dann hatte ich sie ihm entzogen.
»Das ist nicht das, wonach es aussieht«, sagte ich. »Win hat mir die Hand gegeben. Wir versuchen einfach nur … na ja, Freunde zu sein. Das war nur ganz kurz.«
»Das glaube ich dir gerne, aber zu unser beider Unglück dauerte diese Unüberlegtheit so lange, dass jemand ein Foto davon machen konnte«, sagte er. »Am Montag kommt eine neue Meldung heraus mit diesem Bild und der Überschrift:
Charles Delacroix und die Mafia: Wen er kennt und was das für seine Wähler bedeutet.
Versteht sich von selbst, dass das nicht gerade von Vorteil für mich ist. Oder für dich.«
Ja, das sah ich ein.
»Diese großzügige anonyme Spende an Trinity …«
»Damit hatte ich nichts zu tun!«
»Anya, das weiß ich doch längst. Hast du dir denn nie überlegt, von wem sie kam?«
Ich schüttelte den Kopf. Mein Hals
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