Edelherb: Roman (German Edition)
wir im Wagen. Simon Green hatte sich nach den Anschlägen zu einem beachtlichen Preis ein Auto geliehen, damit Natty und ich nicht die öffentlichen Verkehrsmittel benutzen mussten.
Er erklärte mir, dass Berta Sinclair, obwohl Mr. Kipling das Meeting mit ihr letztendlich arrangiert hatte, mich in jedem Fall persönlich sprechen wolle.
»Meinst du, da warten viele Leute?«, fragte ich.
Er erwiderte, hoffentlich nicht, doch sei er sich nicht sicher.
»Glaubst du, ich werde direkt zurück nach Liberty geschickt?«
»Nein. Mr. Kipling hat mit den Leuten von Bertha Sinclair verabredet, dass du mindestens bis zu Imogens Beerdigung unter Hausarrest stehst.«
»Gut.« Ich lehnte mich auf dem Sitz zurück.
Simon Green klopfte mir aufs Knie. »Hab keine Angst, Anya.«
Das hatte ich nicht. Eher spürte ich eine gewisse Erleichterung, weil ich wusste, dass ich mich nun nicht mehr verstecken musste.
Die Staatsanwaltschaft war in einem Teil des Zentrums untergebracht, den ich und der Rest meiner Familie mieden – die gesamte Gegend war dem Gesetzesvollzug gewidmet. Auf der Treppe des Gebäudes standen keine Journalisten, doch auf der Straße fand gerade eine Demonstration der Legalisierungsbewegung statt. Es nahmen nur etwa ein Dutzend Personen daran teil, aber sie verursachten erheblichen Lärm.
»Davon gab es in letzter Zeit viele«, bemerkte Simon Green, als wir vor dem Hogan Place am Straßenrand hielten. »Ich lasse dich hier heraus. Mr. Kipling wartet im Foyer auf dich.«
Ich zog die Kapuze seines Mantels über den Kopf. »Warum gibt es denn so viele Pro-Kakao-Demonstrationen?«
Er zuckte mit den Schultern. »Die Zeiten ändern sich. Die Menschen haben es satt, dass Schokolade so schwer zu bekommen ist. Dein Cousin Mickey kümmert sich nicht richtig um seine Aufgaben. Sein Vater ist krank, Mickey ist überfordert. Viel Glück da drin, Anya.« Simon griff über mich hinweg, um die Beifahrertür zu öffnen, und ich stieg aus.
Ich schob mich durch die Demonstranten. »Willst du eins?«, sagte ein Mädchen mit Zöpfen und reichte mir ein Flugblatt. »Wusstest du, dass Kakao gut für die Gesundheit ist? Er wurde nur verboten, weil die Produktionskosten zu hoch sind.«
Ich erwiderte, dass ich schon davon gehört hätte.
»Wenn wir nicht mehr davon abhängig wären, dass uns skrupellose Mafiosi mit Schokolade versorgen, gäbe es überhaupt keine Risiken!«
» KAKAO JETZT ! KAKAO JETZT ! KAKAO JETZT !«, skandierte die Gruppe und stieß die Fäuste in die Luft.
Ich, die Brut eines skrupellosen Mafioso, drängelte mich weiter durch die aufgebrachte Menge bis ins Foyer, wo tatsächlich Mr. Kipling auf mich wartete.
»Ganz schönes Schauspiel da draußen«, sagte er. Er zog meine Kapuze zurück und gab mir einen Kuss auf die Stirn. Seit Liberty hatten wir uns nicht mehr gesehen. »Annie, meine Liebe, wie geht es dir?«
Ich wollte auf diese Frage nicht näher eingehen, da es zu nichts Gutem führen würde. »Ich kann es nicht erwarten, dieses Treffen hinter mich zu bringen. Ich will unbedingt weitermachen.«
»Gut«, sagte Mr. Kipling. »Gehen wir rein!«
Wir nannten unsere Namen am Empfang, dann fuhren wir mit dem Aufzug in den neunten Stock. Dort mussten wir abermals unsere Namen nennen und in einem nichtssagenden Bereich warten. Es kam mir vor wie eine Ewigkeit. Schließlich führte uns eine Assistentin in ein Büro.
Bertha Sinclair war allein. Sie war Ende vierzig und kleiner als ich. An ihren Beinen trug sie Metallschienen, die quietschten, als sie sich durch den Raum manövrierte, um mir die Hand zu geben. »Die flüchtige Anya Balanchine – willkommen!«, begrüßte sie mich. »Und Sie müssen der beharrliche Mr. Kipling sein. Bitte, meine Freunde, nehmen Sie doch Platz!«
Sie kehrte zu ihrem Stuhl zurück. Da sie die Knie nicht richtig beugen konnte, musste sie sich rückwärts auf den Sitz fallen lassen. Ich fragte mich, was Bertha Sinclair zugestoßen sein mochte.
»So, die verlorene Tochter ist zurück! Das Kindermädchen Ihrer Schwester ist tot, Ihr Bruder ist tot, und Sie sind zurückgekehrt auf die Insel Mannahatta, um sich auszuliefern. Was soll ich bloß mit Ihnen machen? Ihr Anwalt meint, Sie sollten auf Bewährung draußen bleiben, dann wäre die Strafe abgegolten. Was halten Sie davon, Anya? Wäre das nicht ein wenig mild für ein Mädchen, das auf jemanden geschossen hat und aus dem Gefängnis ausgebrochen ist?«
»Meiner Meinung nach«, sagte Mr. Kipling, »hatte Charles
Weitere Kostenlose Bücher