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Edelherb: Roman (German Edition)

Edelherb: Roman (German Edition)

Titel: Edelherb: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabrielle Zevin
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Delacroix kein Recht, Anya damals wieder nach Liberty zu bringen. Er hatte nur seinen Wahlkampf im Blick, nicht das Wohl der Öffentlichkeit. Auch wenn es ein Fehler von Anya war zu fliehen, so entfloh sie doch nur einer Situation, die im Grunde genommen ungerecht war.«
    Bertha Sinclair massierte ihr Knie. »Ja«, sagte sie. »Ich kann Ihnen nicht widersprechen, wenn Sie
im Grunde genommen
meinen, dass Charles Delacroix ein ehrgeiziges, arrogantes Schwein ist.
    Eigentlich«, fuhr sie fort, »müsste ich Ihnen danken, Anya. Dieses Glück, dass Sie damals in jenem Bus saßen! Mein Wahlkampfteam und ich waren auf der Geschichte von Anya und dem Sohn des Staatsanwalts schon so lange herumgeritten, dass sie mausetot war. Die Ironie dahinter ist, dass die Öffentlichkeit sich niemals so viel um die Sache scherte, wie sich Charles Delacroix einbildete. Und meiner Meinung nach waren es nicht Sie, sondern seine Fehleinschätzung der Lage, die ihm den Sieg kostete. Oder anders ausgedrückt: die mir den Sieg brachte.« Bertha Sinclair lachte. »So, ich sehe das folgendermaßen, meine Freunde: Schokolade ist mir egal. Anya ist mir egal. Und ganz besonders egal ist mir der Sohn von Charles Delacroix.«
    »Was ist Ihnen denn nicht egal?«, wollte ich wissen.
    »Gute Frage. Das Kind spricht nicht viel, aber wenn, dann hat es Hand und Fuß. Nicht egal sind mir die Leute hier und was für sie richtig ist.«
    Das fand ich furchtbar nichtssagend.
    »Mir ist wichtig, wiedergewählt zu werden. Wiedergewählt zu werden, verbraucht viele Mittel, Mr. Kipling.«
    Mein Anwalt nickte.
    »Die Familie Balanchine war einst gut mit der Staatsanwaltschaft befreundet. Ich könnte mir vorstellen, dass das wieder so kommt.« Sie holte einen kleinen Notizblock aus ihrem Schreibtisch und kritzelte etwas darauf. Dann reichte sie Mr. Kipling den Zettel. Er betrachtete ihn. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass es eine Zahl mit mindestens vier Nullen war, vielleicht sogar mehr.
    »Und was bekommen wir für diese Zahl?«, fragte er.
    »Freundschaft, Mr. Kipling.«
    »Genauer gesagt?«
    »Freunde müssen sich vertrauen, oder?« Sie begann, auf das nächste Blatt zu schreiben. »Ich habe nie verstanden, warum Papier unmodern wurde. Es ist so einfach zu zerstören. Speichert man etwas digital, kann es von allen gesehen werden und besteht für alle Zeit. Zumindest hat man diese Illusion, doch tatsächlich ist es unendlich veränderbar. Als es noch Papier gab, hatten die Menschen deutlich mehr Freiheit. Aber das tut hier nichts zur Sache.« Sie legte ihren Stift auf den Schreibtisch und reichte mir den zweiten Zettel:
     
    8 T. Liberty
    30 T. Hausarrest
    1 J. Bewährung
    1 J. Abgabe Reisepass
     
    Ich knickte den Zettel zusammen und nickte dann zustimmend. Selbst wenn wir dafür bezahlten, kam es mir doch mehr als vernünftig vor. Irgendwann würde ich zwar nach Japan reisen müssen, doch ich nahm an, das könnte man später noch klären.
    »Wenn Sie aus Liberty entlassen werden, werde ich eine Pressekonferenz geben, auf der ich verkünde, dass ich bereit bin, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Ich werde lächerlich machen, wie Charles Delacroix mit der Situation umgegangen ist – ich verspreche Ihnen, der Teil wird mir sehr viel Spaß bereiten. Was mich betrifft, ist die Sache damit aus der Welt geschafft. Sie bekommen Ihr Leben zurück. Und wir sind alle Freunde für immer, solange Sie nichts tun, was mich verstimmt.«
    Ich schaute in Bertha Sinclairs Augen. Sie waren dunkelbraun, fast schwarz. Es wäre verlockend gewesen zu sagen, ihre Augen waren so schwarz wie ihr Herz oder eine ähnliche Binsenweisheit, doch ich bin überzeugt, dass die Augenfarbe lediglich auf Vererbung beruht. Dennoch war nicht zu bestreiten, dass diese Frau korrupt war. Daddy sagte immer, dass korrupte Menschen pflegeleicht wären, da sie zuverlässig seien – man konnte sich zumindest auf ihre Korrumpierbarkeit verlassen.  
    »Ich lasse einen meiner Mitarbeiter mit Mr. Kipling aushandeln, wann Sie nach Liberty zurückkehren«, sagte Bertha Sinclair, als wir uns verabschiedeten.
    »Ich würde gerne sofort hingehen«, hörte ich mich sagen.
    Mr. Kipling hielt inne. »Anya, bist du dir da sicher?«
    »Ja, Mr. Kipling.« Ich hatte keine Angst vor der Erziehungsanstalt. Ich hatte Angst davor gehabt, dort auf unbestimmte Zeit zu sitzen. Doch je früher ich hinging, desto früher konnte ich mich darum kümmern, mein Leben in die Hand zu nehmen, und in der Hinsicht hatte ich so

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