Edelherb: Roman (German Edition)
diejenigen waren, die für die Tode von Imogen und Leo verantwortlich waren.
Die Kirche stand direkt am Fluss, daher ihr Name, und der Wind war Ende Januar schneidend scharf. Auf den Treppen hatten sich Presseleute versammelt.
»Anya, wo sind Sie so viele Monate gewesen?«, rief mir ein Fotograf zu.
»Hier und da«, erwiderte ich. Niemals würde ich meine Freunde in Mexiko verraten.
»Wer hat Ihrer Meinung nach Imogen Goodfellow umgebracht?«
»Ich weiß es nicht, aber ich werde es herausfinden«, sagte ich.
»Bitte, Leute«, unterbrach Mr. Kipling. »Heute ist ein sehr trauriger Tag. Anya und ich möchten einfach nur in die Kirche und einer geliebten Kollegin und Freundin die letzte Ehre erweisen.«
Im Gotteshaus hatten sich ungefähr fünfzig Personen versammelt, obwohl dort bestimmt um die tausend Platz gefunden hätten. Natty und Simon Green saßen hinten. Ich quetschte mich zwischen sie, und Natty drückte meine Hand. Sie hatte einen Mantel über den Schultern, der nicht ihr gehörte, den ich aber dennoch kannte. Ich wusste, wie es sich anfühlte, meine Wange daran zu drücken. Ich wusste, wie er roch – nach Rauch und Kiefern – und wie er ausgesehen hatte, wenn ihn der Junge trug, den ich liebte.
Ich beugte mich vor und schaute die Bank entlang. Auf der anderen Seite von Natty saß Scarlet mit leicht gerundetem Bauch und rosigen Wangen. »Scarlet!«, flüsterte ich. Sie winkte mir zu. Ich griff an Natty vorbei und legte meine Hand auf Scarlets Bauch. »Oh Scarlet«, sagte ich. »Du bist …«
»Ich weiß. Ich bin dick«, erwiderte sie.
»Nein, du bist wunderschön.«
»Aber ich fühle mich dick.«
»Du bist wunderschön«, wiederholte ich.
Scarlets blaue Augen wurden glasig wie ein See. »Ich bin so froh, dass du wieder sicher zu Hause bist.« Sie erhob sich und drückte mir einen Kuss auf den Mund. »Meine liebste, beste Freundin.«
Dann lehnte sie sich zurück, damit ich sehen konnte, wer hinter ihr saß: Win. Natty hatte nicht nur seinen Mantel ausgeliehen, sondern ihn auch persönlich mitgebracht.
Ich wusste, dass ich ihn irgendwann wiedersehen würde, doch hatte ich nicht damit gerechnet, dass es so schnell sein würde. Ich hatte keine Zeit gehabt, mich auf unsere Begegnung vorzubereiten. Meine Wangen brannten, ich konnte keinen klaren Gedanken fassen. Ich beugte mich über Natty und Scarlet, und mir fiel nichts Besseres ein, als Win meine Hand hinzuhalten.
»Soll ich dir die Hand geben?«, flüsterte er.
»Ja.« Ich wollte ihn so schnell wie möglich berühren. Zuerst seine Hand und dann den Rest. Doch es war wohl besser, mit den Händen anzufangen. »Ich … danke, dass du gekommen bist.«
Er nahm meine Hand in seine. Als er sie wieder loslassen wollte, weigerte ich mich zuerst, gab dann aber doch nach.
Während unserer Trennung hatte ich mich gefragt, ob ich ihn überhaupt noch mochte. Das erschien mir nun wie ein jämmerlicher Versuch, mit der Situation klarzukommen. Natürlich mochte ich Win immer noch. Mehr als das. Die Frage war: Konnte er mich wirklich immer noch mögen? Nach all den Dingen, die ich getan hatte, meine ich.
Ich weiß, es war völlig unangebracht, sich auf einer Beerdigung mit solchen Gedanken zu beschäftigen.
Win sah mich an – sein Blick war fest, vielleicht sogar warm –, er nickte förmlich. »Natty wollte, dass ich komme«, flüsterte er.
Mein Herz begann in meiner Brust zu pochen. Es schlug so laut und heftig, dass ich mich fragte, ob Natty und Scarlet es hören konnten.
Dann begann der Gottesdienst, und wir mussten uns erheben. Ich rief mir in Erinnerung, dass meine Freundin Imogen tot war und nur gestorben war, weil sie meine Schwester geschützt hatte.
Nach dem Gottesdienst gingen wir nach vorne, um unser Beileid auszusprechen. »Es tut mir so leid«, sagte ich zu Imogens Mutter und Schwester. »Es tut Natty und mir so leid. Imogen hat sich vorbildlich um meine Großmutter und meine Schwester gekümmert. Sie wird uns mehr fehlen, als wir in Worten ausdrücken können.«
»Ich werde mich immer an ihre Bücher erinnern und daran, wie lustig sie war«, ließ sich Natty mit leiser, aber kräftiger Stimme vernehmen. »Ich hatte sie lieb, und sie wird mir sehr fehlen.«
Imogens Mutter begann zu weinen. Die Schwester zeigte mit dem Finger auf Natty und sagte: »Du dürftest gar nicht hier sein, du Göre. Wegen dir ist Imogen tot.«
Da begann auch Natty zu weinen.
»Abschaum!«, zischte Imogens Schwester uns an. »Verbrecherpack! Ich habe
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