Edelsüß: Norma Tanns vierter Fall (German Edition)
Geschäftsführer gebracht hatte. Die von allen Schnörkeln befreiten
Etiketten waren seine Idee gewesen. Ebenso der neue Name. So hatte er noch zu Lebzeiten
des Chefs das biedere ›Weingut Ewald Medzig‹ zum ›Weingut Adebar‹ geadelt.
Innovationen,
die Harry in den guten Zeiten vorangetrieben hatte, als sich Rheinwein innerhalb
Deutschlands bestens verkaufen und in alle Welt exportieren ließ. Hauptsache, er
schmeckte so süß und süffig, wie man ihn seit den Wirtschaftswunderjahren am liebsten
trank. Im Frühjahr 1985 hatte das böse Wort ›Glykol‹ die Weinwelt erschüttert. Von
heute auf morgen hatte niemand mehr deutschen Wein gekauft. Selbst den Japanern
und Amerikaner war die Lust darauf vergangen. Ein Schicksal, das in gleicher Weise
die österreichischen Weine traf – und nicht zu Unrecht. Fand der Skandal doch dort
seinen Ursprung: Am abgeschiedenen Neusiedler See, wo in preisgekrönten Weißweinen
ausgerechnet jener Stoff gefunden wurde, der seiner Bestimmung nach dazu diente,
Motoren bei strengem Frost in Gang zu halten. Bis einfallsreiche Winzer entdeckten,
dass sich 1.000 Liter des miesesten Fusels mit einem Liter Frostschutzmittel zu
einem süffigen Eiswein aufwerten ließen. Gesund fürs Bankkonto, schädlich für den
menschlichen Organismus. Ich trinke das Zeug ja nicht selbst, hatten die experimentierfreudigen
Panscher wohl gedacht. Die deutschen Winzer, die ihre eigenen Weine mit dem vergifteten
Ösi-Wein streckten – angeblich hat’s ja keiner gewusst –, luden sich eine Last auf,
die in nicht wenigen Fällen zum Genickbruch führte. Und auch Rheingauer Winzer ins
Straucheln brachte. Die Bösen wie die Braven.
Der ›schlimmste
Weinskandal der Bundesrepublik Deutschland‹, wie die Zeitungen schrieben, trieb
Harrys Chef in den Tod und machte aus dem redlichen Winzer Karl Bennefeld einen
jähzornigen Trinker. Als Kind hätte Angela sich niemals vorstellen können, sich
einmal vor dem eigenen Vater in Acht nehmen zu müssen. Anders Ewald Medzig, der
war von jeher ein Monster gewesen und hatte Oliver nach Lust und Laune grün und
blau geprügelt. Keine Gruselgestalt hatte sie mehr geängstigt als der reale Ewald
Medzig. Sie war die Letzte, die ihm eine Träne nachweinte, als er nicht von der
Hallgarter Zange wiederkehrte.
Wie bei
jedem kriminellen Geschehen gingen aus dem Glykolskandal Gewinner und Verlierer
hervor, was Angelas Gerechtigkeitssinn herausforderte. Eines der Stehaufmännchen
hieß Harry Halvard. Er bewahrte das Weingut Adebar vor dem Untergang und brachte
es auf einen sicheren Kurs. Von einem Tag auf den anderen nahm er das Punkermädchen
nebenan zur Kenntnis. Den ganzen Sommer über hatten sie sich am Hafen getroffen
und waren mit seinem Motorboot hinüber zur Rettbergsaue getuckert. Als es zum Schwimmen
zu kalt wurde, fuhren sie nach Wiesbaden hinein oder wanderten in die Weinberge
hinauf, wo er ihr seine Zukunftsträume anvertraute: Dass er in Geisenheim Weinbau
studieren wollte, um danach Journalist zu werden und aus aller Welt über die wunderbarsten
Weine zu berichten. Oder der Vater würde ihm ein eigenes Weingut kaufen. In den
letzten Wochen hatte er sich jedoch verändert. Immer deutlicher spürte sie seine
Zurückhaltung, sein Unbehagen, das in Ablehnung umschlagen konnte. Ihr war klar,
eine glückliche Liebe sah anders aus.
Aber nun!
Er brachte ihr Herz zum Rasen, wie er in Arbeitskleidung auf der Türschwelle stand,
als könnte ihn kein Feiertag von seinen Aufgaben fernhalten. Gefütterte Winterstiefel,
ein Blaumann, darüber sein geliebter Norwegerpulli – eigenhändig gestrickt von Henriette
Medzig. Lässig um den Hals gebunden, ein grobmaschiger bunter Wollschal. Ihr Schal!
Dafür hatte sie häkeln gelernt und sich die Finger müde gearbeitet, damit das Weihnachtsgeschenk
rechtzeitig fertig wurde.
Sie streckte
sich und suchte seinen Blick. »Gefällt er dir?«
Kein Lächeln.
»Für den Keller wird’s reichen. Ist dein Vater da? Mein Alter muss ihn sprechen.«
Mit dem
Daumen wies er hinter sich. Ein Mann im eleganten Wollmantel durchschritt den Hof:
Schlank, groß gewachsen und umkränzt von einer blonden Lockenmähne wie der Moderator
von ›Na sowas!‹, über dessen abgefahrene Klamotten sich die Eltern so gern aufregten.
Ohne einen Blick für den kläffenden Billy umrundete Onno Halvard in seinen glänzenden
Halbschuhen die Schlaglöcher im Asphalt.
Sie schaute
auf Harrys Hände. »Hast du mir nichts mitgebracht?«
»Weihnachtsgeschenke
sind
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