Edelsüß: Norma Tanns vierter Fall (German Edition)
nichts anderes zu beobachten gab
als Baumkronen, die sich vom Wind zerzausen ließen. »Reden worüber?«
Sie griff
nach dem Kaffee. »Zum Beispiel über einen Verbindungsgang zwischen unserem Keller
und dem der Medzigs.«
Karl streckte
die Hand nach dem zweiten Kaffeebecher aus. Er gab sich beim Umrühren alle Mühe,
um nicht auf die Bettwäsche zu kleckern.
»Ein Gang?«,
überlegte er und schwieg eine Weile.
Nachdenklich
sagte er: »Tatsächlich, mein Großvater erzählte davon, dass die Keller früher miteinander
verbunden waren, damit man in Kriegszeiten einen Fluchtweg hatte. Aber es hieß,
der Gang sei teilweise verschüttet und baufällig. Deswegen war der Zugang mit Brettern
versperrt, solange ich denken kann, und die Medzigs haben es auf ihrer Seite genauso
gemacht. Als Kind war es mir unter Androhung von Prügeln verboten, mich auch nur
in der Nähe aufzuhalten. Später habe ich mich nicht weiter darum gekümmert. Warum
auch? Wieso sollte ich mich unter Lebensgefahr in Medzigs Keller begeben? Wie kommst
du darauf?«
»Henriette
hat heute Morgen davon erzählt, als sie Kaufinteressenten durch den Keller führte.
Übrigens waren die Leute schwer beeindruckt von den Dimensionen.«
»Nun ja,
der Medzig-Keller ist gewaltig. Unser eigener Keller hatte auch seine versteckten
Winkel.«
»Und in
einer solchen Ecke lag wohl der Zugang nach nebenan. Harry war neugierig und hat
die Absperrung auf seiner Seite heruntergerissen. Später hat Oliver die Öffnung
zugemauert, sagt Henriette.«
Mit zu großem
Schwung stellte er den Becher ab. Ein schwarzer Schwall schwappte auf die Bettdecke.
Karl achtete nicht darauf. »Hat Henriette gesagt, in welchem Jahr Harry den Zugang
gefunden hat?«
Nein, aber
das ließe sich eingrenzen, erklärte Angela, während sie die Nachttischschublade
nach einem Papiertaschentuch durchsuchte, das sie auf den Kaffeefleck pressen könnte.
1980 brach Harry die Schule ab und trat im selben Jahr die Winzerlehre an. Nach
Abschluss der Lehre leistete er seinen Wehrdienst ab und kehrte 1984 als Verwalter
auf das Weingut zurück, um Ewald Medzig zu unterstützen, dem seine Krankheit zu
schaffen machte. 1985 beging Ewald Medzig Suizid. Im Frühjahr 1987 übernahm Onno
Halvard das Bennefeld-Weingut. Harry reichte bei Henriette die Kündigung ein. Jedoch
nicht, um, wie allgemein erwartet wurde, das neu erworbene Weingut zu leiten. Diese
Aufgabe übernahm ein Verwalter. Harry holte das Abitur nach und begann ein Studium.
Davor hatte er lange genug die Gelegenheit, auf diesen Gang zu stoßen – und ihn
1985 für seine Betrügereien zu nutzen.
Während
der Vater ihrem unsinnigen Herumtupfen zusah, blieb sein Gesicht ohne Regung. Was
sie verblüffte, hatte sie doch eine deutliche Reaktion erwartet: Aufregung zumindest
oder gar einen heiligen Zorn. Gefasst wandte er seinen Blick erneut den Buchenkronen
zu und drehte ihr so sein Profil zu, das sie umso mehr an einen in Marmor gehauenen
Caesaren erinnerte, je hagerer und abgeklärter sich seine Züge formten.
»Seltsam«,
sagte er bedächtig, »warum bloß ist mir damals der Gang nicht in den Sinn gekommen?
Nicht eine Sekunde habe ich daran gedacht in diesen entsetzlichen Tagen. Du kannst
dir nicht vorstellen, wie es mir ging. Du warst ein Kind.«
Sie warf
das nasse Taschentuch in den Mülleimer. »Ich war 14! Dieses grässliche Glykoljahr
habe ich viel bewusster erlebt, als ihr es euch vorstellen konntet. Warum habt ihr
nicht mit mir geredet, Mutter und du?«
»Wir wollten
dich schonen.«
»Eure Heimlichkeiten
haben mich erst recht fertiggemacht.«
Angeblich
auf einen anonymen Tipp hin hatten die Weinprüfer im September 1985 im Keller der
Bennefelds eine Anzahl Glykolkanister und weitere Chemikalien aufgestöbert, mit
denen sich mindere Qualitäten zum Prädikatswein aufhübschenließen. Der Vater
war als Weinpanscher gebrandmarkt, und das Verhängnis nahm seinen Lauf.
Sie senkte
die Stimme. »In der Schule hat man mich verhöhnt, ich sei die Tochter eines Giftmischers.
Ich konnte mich nicht wehren, weil ich keine Argumente zugunsten meines Vaters fand.
Dein gesamtes Verhalten war nichts als ein Schuldeingeständnis.«
»Ich war
wie gelähmt. Versteh doch, Angela, auf solche Verdächtigungen war ich nicht im Geringsten
vorbereitet. Ich als rechtschaffener Winzer in der neunten Generation! Heute ist
mir längst klar, wie viele Fehler ich gemacht habe.«
Sie wusste,
welche Versäumnisse er meinte. Wie so viele Rheingauer Winzer zu der Zeit war
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