Edelsüß: Norma Tanns vierter Fall (German Edition)
alte
Dyzek hielt das Vermögen zusammen. Ein Sohn, der nicht gewillt war, sich für die
Firma aufzuopfern, hatte von ihm keinen Pfennig zu erwarten.«
»Wie sind
Adam Dyzek und Onno Halvard zusammengekommen?«
»Adam studierte,
dem Unternehmen entsprechend und auf Wunsch des Vaters, zuerst Elektrotechnik und
Informatik. Als unverhofft seine Leidenschaft für den Weinbau ausbrach und er ein
Studium in Geisenheim draufsatteln wollte, drehte ihm der Vater den Geldhahn zu.
Adam brauchte also einen Job, und den erhielt er in Onno Halvards Parteibüro, wo
er sich unter anderem um die Computer kümmerte.«
Am Nebentisch
fanden sich weitere Gäste ein. Norma rückte ein Stück zur Seite. »Wenn das alles
so eindeutig war, warum hat Angela Jördens nicht verklagt? Wegen Vorteilsnahme im
Amt, zum Beispiel?«
Tonja Pollay
runzelte die Stirn. »Das ist nicht Ihr Ernst! Eine Referendarin soll den Leitenden
Staatsanwalt verklagen? Aufgrund einiger Gerüchte? Es wäre das Ende gewesen. Sie
hätte unter die Schiersteiner Brücke ziehen können. Entschuldigen Sie mich, Norma.
Bin gleich zurück. Der Tee!«
Tonja Pollay
erhob sich, bugsierte ihre Masse um den Bistrotisch herum und verließ den Gastraum
mit stapfenden Schritten. Auch Norma stand auf. Im Nebenraum betrachtete sie die
seidig glänzende blaue Wandbespannung und betrat den Balkon, um frische Luft zu
schnappen. Die glücklose Königin kam ihr in den Sinn, wie sie hier draußen ausgeharrt
haben mochte, die Kinderhand umklammernd und Ausschau haltend nach den serbischen
Soldaten, die der König geschickt hatte, um ihr den Sohn zu entreißen. Eine Frau
als Spielball der Mächtigen, überwältigt von Zorn und Angst, eine leidende Mutter.
So glaubte man gern. Wer wollte ausschließen, dass nicht die Mutter das Kind entführt
und außer Landes gebracht hatte, um den Ehemann zu quälen? Klischee hin oder her,
nur eines schien klar: Für das Kind muss es die Hölle gewesen sein.
Und ihr
eigener Fall? Hier der fiese Harry, der findige Vater, der korrupte Oberstaatsanwalt,
der hinterlistige Freund, dort die redliche Referendarin, die wacker für Recht und
Gesetz kämpft. Tonja Pollay hatte sich alle Mühe gegeben, ihre Version als die einzig
gültige zu verkaufen. Abgesehen davon: Das Geschehen rund um die Weinpanscherprozesse
lag mehr als ein Vierteljahrhundert zurück. Die Giftmischerei war längst verjährt.
Nein, es musste etwas weit Schwerwiegenderes im Spiel sein als glykolverseuchter
Wein.
Wenig später
verabschiedete Norma sich von der Journalistin. Auf dem Weg zum Wagen klingelte
ihr Handy. Timon Frywaldt. Hatte der Doppeldoktor weitere Spuren an den Knochen
entdeckt? Doch darum ging es ihm nicht.
»Ich dachte,
Sie mögen heute Abend vielleicht einen Grappa? Und davor einen Chianti, zu dem ich
ein Nudelgericht empfehlen würde. Ich kenne einen Italiener, der bietet die raffiniertesten
Kreationen, auf Wunsch auch vegetarisch. Darf ich Sie abholen?«
»Wir treffen
uns dort«, schlug Norma vor. »Um 20:30 Uhr?«
Er freue
sich, sagte Frywaldt.
32
Sonntag, der 24. Juli
Sie erwachte mit dem misslichen
Gefühl der Peinlichkeit. Als sie die Augen aufschlug, wusste sie wieder, warum.
Frywaldt! Sie hatte ihn versetzt. Während er beim Italiener gewartet hatte, war
sie auf dem Sofa eingeschlafen. Dabei hatte sie sich nur ein paar Minuten ausruhen
wollen. Um 22 Uhr hatte er ihre telefonische Entschuldigung wortkarg entgegengenommen.
Dumm gelaufen! Der Preis der öden Nachtarbeit für die Versicherung. Zum Glück war
ein Ende abzusehen. Leopold wollte nicht von ihrem Bauch herunter und krallte sich
fauchend in der Bettdecke fest, als sie aufstand. Sie hatte Kopfweh und suchte im
Bad nach Schmerztabletten, fand aber nur eine leere Pappschachtel. Egal, frische
Luft würde sowieso besser helfen. Sie zog ihre Sportsachen an, stieg in die Joggingschuhe
und verließ das Haus. Nach wenigen Schritten lag das Rheinufer vor ihr. Nebliger
Dunst verschleierte die Rettbergsaue. Eine Stockentenfamilie watschelte über den
Uferweg, und die Ente brach in besorgtes Schnattern aus, als Norma den Küken näherkam.
Sie schlug einen Bogen um zwei radelnde Kinder und hing weiter ihren Gedanken nach.
Zehn Tage waren vergangen seit ihrer Laufrunde um den Schiersteiner Hafen und dem
Auffinden der ertrunkenen Staatsanwältin. Vier Tage später hatte sie die erste Knochenpost
erhalten. Es kam ihr vor, als sei sie schon eine kleine Ewigkeit mit beiden Fällen
befasst, und andererseits waren die
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