Edelsüß: Norma Tanns vierter Fall (German Edition)
Tage wie im Flug vergangen. Doch zum Grübeln
war der sonnige Vormittag viel zu schön. Sie verbat sich jeden Gedanken an Tod und
Knochen. Lieber genoss sie, wie der Kopf mit jedem Schritt freier wurde, und umrundete
leichtfüßig die Ruine der Moosburg, die sich als pittoresker Blickfang gegen das
filigrane Barockschloss am anderen Ende der Blickachse zu behaupten versuchte.
Nach dem
Frühstück ging sie hinunter ins Büro. Sie telefonierte mit dem Pflegeheim und ließ
sich mit Schwester Sonja verbinden, die ihr wiederum mit höflicher Unnachgiebigkeit
den Besuch bei Karl Bennefeld untersagte. Vielleicht morgen, meinte sie zum Abschied
einlenkend. Mit dem Entschluss, sich direkt an Elisa zu wenden, wenn sie am Montag
nicht durchgelassen würde, legte Norma auf. Sie schloss den Büroschrank auf und
nahm die Schiebermütze mit an den Schreibtisch. Zum Schutz möglicher Spuren hatte
sie die Mütze und das Blatt Zeitungspapier, in dem der Stoff eingewickelt gewesen
war, getrennt in Plastiktüten gegeben. Hinter der Folie schimmerte der goldene Anstecker.
Norma nahm einen Bleistift und machte sich daran, die Umrisse des Lorbeerkranzes
und die darin befindliche Weinrebe auf ein Blatt Papier zu skizzieren. Ein Klopfen
an der Tür unterbrach ihre Arbeit. Zu ihrer Verblüffung war der Besucher Harry Halvard,
der ihr sein gewinnendes Weinpapstlächeln schenkte. Auch er äußerte sich überrascht.
Er sei im Rheingau unterwegs gewesen, um einige Weingüter zu besuchen, und habe
nicht wirklich erwartet, sie am Sonntag im Büro anzutreffen. Umso schöner, dass
sich sein Versuch gelohnt habe. Ob er sie kurz sprechen dürfte?
Norma bot
ihm einen Kaffee an. Halvard wollte lieber ein Glas Wasser.
Als sie
aus der Teeküche zurückkehrte, stand ihr Gast mitten im Raum und schaute sich um.
»Geschmackvoll eingerichtet, mein Kompliment.«
Norma reichte
ihm den Becher. »Die Renovierung war nötig! Und ich gebe gern zu, mir gefällt es.«
Er nickte
ernsthaft. »Unser Wohlbefinden hängt von so vielen Faktoren ab. Die reine, gesunde
Nahrung, wohlmeinende Menschen um uns herum, und vor allem ein harmonisches Umfeld.
Darf ich?« Auf ihr Nicken hin stellte er den Becher auf dem Schreibtisch ab und
holte das braune Medizinfläschchen aus der Jackentasche. »Dreimal täglich zehn Tropfen,
und man fühlt sich um Jahre jünger.«
Norma lächelte.
»Einen Zaubertrank könnte ich auch gebrauchen. Was ist das?«
Er lachte
laut auf. »Keine Ahnung! Meinem Homöopathen vertraue ich blind.«
Sein Blick
wanderte durch den Raum, kehrte zum Schreibtisch zurück und blieb an der Tüte mit
der Mütze haften. Ob er sich nicht setzen wolle?, fragte Norma. Halvard mochte lieber
ein paar Schritte gehen, was ihr nur recht sein konnte. Der Kopfschmerz war hartnäckig.
Sie folgte ihm hinaus. Seine schwarze Luxuskarosse parkte auf dem Gehweg, was für
Halvard teuer kommen könnte, wie Norma aus Erfahrung wusste. Sie schob das Hoftor
auf und bot ihm Evas Stellplatz an. Von einem Mauervorsprung aus sah der Kater dem
Einparkmanöver mit hochmütigem Blinzeln zu. Endlich war der Daimler sicher untergebracht,
und Norma begleitete ihren Gast zum Rhein hinunter. Der Nebel hatte sich aufgelöst
und das Panorama der Rettbergsaue freigegeben. Am Anleger versammelten sich Paare
und Familien, die mit Decken und Picknickkörben beladen auf die Fähre warteten,
um den Sonntag auf der Insel zu verbringen.
Halvard
trat an die Kaimauer heran. »Zu Angelas letztem Abend ist mir etwas eingefallen.
Da war tatsächlich jemand.«
Norma schaute
auf die Wellen, die sich an den Steinen brachen. »Wen meinen Sie?«
»Hmm, ja,
verstehen Sie mich nicht falsch. Ich möchte niemanden anschwärzen.«
»Keine Sorge,
Herr Halvard, ich sichere Ihnen Vertraulichkeit zu, wenn Sie darauf Wert legen.«
Trotzdem
zierte er sich, bis er endlich damit herausrückte, er habe denjenigen bemerkt, als
er selbst das Hafenrestaurant verließ. »Ein Mann wartete an der Promenade. Zuerst
drehte er mir den Rücken zu. Als er sich umwandte, habe ich ihn sofort erkannt.
Obwohl wir uns seit Jahren nicht gesehen haben.«
Norma rückte
einen halben Schritt näher. »Von wem sprechen Sie?«
Halvard
lächelte, als habe er ein Geschenk für sie. »Von Adam Dyzek.«
»Das weiß
ich bereits. Adam Dyzek hat Angela an ihrem Tisch angesprochen und ist kurz darauf
wieder gegangen. Es gibt einen weiteren Zeugen.«
Er wirkte
enttäuscht. »Schade! Ich hoffte, ich könnte zur Aufklärung beitragen.«
»Ich
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